Lasst euch von dem Cover und dem Titel nicht täuschen: „Preiselbeertage“ ist eine wahrhaft geglückte Mischung aus einem gut geschriebenen Familienroman und einem anschaulich aufbereiteten Stück Zeitgeschichte.
Der Roman von Stina Lund erzählt zum einen von einer Mutter-Tochter-Beziehung: Das Verhältnis zwischen Ariane und ihrer Mutter Ina ist von Distanz und Ressentiments geprägt. Zu viele Geheimnisse seitens der Mutter, zu wenig Eingehen auf die Befindlichkeiten der Mutter seitens der Tochter. Ein normaler Mutter-Tochter-Zwist ist dies hier nicht.
1986: Ina lebt in Leipzig und studiert dort Gesang. Während einer Chorreise nach Schweden kehrt sie nach einem Motorradunfall mit Jörg aufgrund eines Missverständnisses nicht mehr in die DDR zu ihren Eltern und ihrer unehelich geborenen Tochter Ariane zurück. So gilt sie drei Jahre vor der Wende als Republikflüchtling, mit allen Repressalien für die Eltern in Leipzig, inklusive eines Kontaktverbots, von dem Ina aber erst nach der Wende erfahren wird. In Schweden heiratet sie schließlich Jörg; beide führen eine vor allen Dingen pragmatische Ehe.
Welches Manuskript? Und wo ist es?
Als Jörg in Schweden stirbt, so beginnt der Roman, reist Ariane – die sofort 1989 von Ina aus Leipzig nach Schweden geholt worden war, aber mittlerweile wieder nach Deutschland remigriert ist – von ihrer Arbeitsstelle in Leipzig nach Söderby zur Beerdigung. Und nun nimmt die Story so richtig Fahrt auf: Offensichtlich hat der Vater ein Manuskript hinterlassen, das Aufschluss und neue Erkenntnisse über das Leben in der DDR geben soll. Doch dieses Manuskript scheint verschollen und gerade Ina zeigt so gar kein Interesse an dessen Auftauchen… Dass auch das Verhältnis zu ihrer Halbschwester Jolante überschattet ist durch emotionale Distanz, zuweilen gar Sprachlosigkeit, verwundert ebenfalls nicht. Ein Lichtblick für Ariane ist allerdings ihre Liebesbeziehung zu Viggo, dem Leiter des örtlichen Elchparks, wobei dieser Handlungsstrang eher eine Nebenrolle spielt.
Interessant, wie Stina Lund ihren Roman aufgebaut hat: Angesiedelt auf zwei sich ständig abwechselnden Zeitebenen wird zunächst über Ariane berichtet, über ihre Arbeit in einer Redaktion in Leipzig, ihre sie wenig befriedigende Beziehung zu einem Arbeitskollegen und wie sie sich schließlich in Schweden auf die Suche nach dem Manuskript begibt – gegen den ausdrücklichen Wunsch ihrer Mutter. Der zweite Erzählstrang startet in Leipzig circa 1986 und erzählt Inas Geschichte: Ihr One-Night-Stand und ihre Entscheidung, das Kind doch alleinerziehend zusammen mit ihren Eltern aufzuziehen.
Solide Unterhaltung mit viel Zeitkolorit (und einem Zimtschneckenrezept)
Gut gelungen auch, wie sich die beiden Zeitebenen dann in der Gegenwart treffen. Daneben überzeugen die differenziert beschriebenen Charaktere, ihre plausibel nachvollziehbaren Verhaltensweisen sowie die Skizzierung der politischen Situation in der DDR kurz vor und nach der Wende, gerade auch im Gegensatz zu dem Leben in Schweden. „Preiselbeertage“ bietet eine gute, solide Unterhaltung mit viel Zeitkolorit. Wem Uwe Tellkamps „Der Turm“ als zu voluminös und schwergewichtig erscheint, sollte bei Stina Lund zugreifen – und ein Rezept für Schwedische Kanelbullar (Zimtschnecken) ist dem Roman auch noch beigefügt.
Stina Lund, 1970 geboren als Tochter einer deutschen Mutter und eines schwedischen Vaters, wuchs in einer Kleinstadt in Smaland auf. Nach einer Buchbinderlehre studierte sie Buchwissenschaften und arbeitete als Restauratorin. Heute widmet sie sich nur noch dem Schreiben und lebt mit ihrer Familie im Münsterland.
Stina Lund: Preiselbeertage. 336 Seiten, Verlag rororo, Verlagswebsite