Buchtipp: „Heute leben wir“ von Emmanuelle Pirotte

Belgien, in den Ardennen, Winter 1944: Die siebenjährige Renée, ein jüdisches Kind, ist ohne Eltern auf der Flucht vor den Nazis.

Der Pfarrer, der kein gutes Versteck mehr für sie finden kann, denn die Deutschen sind bereits im Dorf, übergibt sie vorbeifahrenden Amerikanern.

Was der Pfarrer nicht weiß: Es sind gar keine Amerikaner, sondern verkleidete Deutsche, Mitglieder der „Operation Greif“, die hinter den amerikanischen Linien Verwirrung bei den Truppen stiften sollen. Die gab es übrigens wirklich: Wehrmachtsoldaten unter dem Befehl des österreichischen SS-Obersturmbandführers Otto Skorzeny trugen US-Uniformen und verwendeten amerikanische Waffen, um den Gegner zu täuschen.

Renée entdeckt die Maskerade

Renée sitzt also auf der Rückbank des Jeeps und hört an der Sprache, in der sich die beiden Männer unterhalten, dass sie Deutsche sind. Das Mädchen weiß: das ist ihr Ende.

Folgerichtig führen sie die Soldaten in einen Wald, um sie zu erschießen.

Er zog seine Pistole und legte auf die Kleine an. Sie war nichts mehr, nur eine gesichtslose Gestalt, zum Verschwinden bestimmt. Er spannte den Abzug.

Renée fragte sich, was für ein Gesicht der Soldat wohl machte, der sie töten würde, der andere, der hinten geblieben war, der, dessen Augen sie im Jeep flüchtig gesehen hatte, der mit der grabestiefen Stimme. Sie wollte ihn sehen. Sie wollte, dass er sie sah. Sie begann sich um ihre eigene Achse zu drehen, ganz langsam, und ihre Augen trafen die seinen.

Und dann nimmt die Geschichte eine unerwartete Wendung: Dieser Soldat, Matthias, erschießt nicht das jüdische Mädchen, sondern seinen Kameraden. Es dauert eine Weile, bis Renée und Matthias (und auch die Leser_innen) verstehen, was da gerade geschehen ist.

Das kluge und stolze Mädchen und der eigentlich aufs Töten programmierte SS-Mann müssen sich nun irgendwie durchschlagen. Zunächst finden sie eine Hütte in der Wildnis, in der sie unterkommen können. Dann übergibt Matthias das Mädchen Bewohnern eines abgelegenen Bauernhofs und geht. Aber er ist so fasziniert von dem Mädchen, von ihrer Lebendigkeit, ihrer Unverfrorenheit und ihrem Mut, dass er später auf den Bauernhof zurückkehrt, obwohl er weiß, wie riskant das für ihn ist. Und es wird dann auch gefährlich, als entdeckt wird, dass er Deutscher ist. Und später, weil die Deutschen den Bauernhof besetzen …

Ein Nationalsozialist aus Kanada

Matthias ist zwar eine „Kampfmaschine“, aber kein überzeugter Nazi. Mit der Naziideologie will er nichts zu tun haben, macht sich sogar darüber lustig. Von Anfang an merkt man beim Lesen, dass bei dieser Hauptperson etwas Besonderes mitschwingt.

Seine kräftige Gestalt zeichnete sich deutlich im Mondlicht ab. Er hatte einen geschmeidigen, leichtfüßigen Gang. Er schien diesem Wald anzugehören, der sie umgab… Er war hier zu Hause.

Er jagt einen Hasen und nimmt ihn aus. Sie essen das Fleisch, und aus dem Fell näht er Fäustlinge für Renée. In Rückblenden wird nach und nach erzählt, dass Matthias vor dem Krieg in Kanada als Pelztierjäger und Fallensteller gearbeitet hat. Als er krank wurde, kümmerte sich eine alte Indianerin um ihn und versuchte, ihm ihr Wissen weiterzugeben. Nur deshalb gelingt es ihm wohl auch, das Besondere in dem Kind zu sehen und Zeichen zu deuten.

Filmische Anmutung

Emmanuelle Pirotte ist eigentlich Drehbuchautorin. Auch diesen Stoff hat sie zunächst als Drehbuch geschrieben und später erst zum Roman umgearbeitet. Man merkt das noch an den schnellen Schnitten (wie im Film), die das Buch sehr spannend machen. Ich hatte den Roman eigentlich nur zufällig entdeckt, musste ihn dann aber unbedingt zu Ende lesen. Hauptsächlich natürlich wegen der starken und eigenwilligen Hauptpersonen, die zunächst gar nicht, nach und nach aber immer besser zusammenzupassen scheinen. Ob es solche Menschen wie Matthias und Renée wirklich gegeben hat? Vermutlich nicht, aber als Leserin wünscht man es sich sehr.

Inspiriert wurde die Autorin durch die Geschichte ihrer Großeltern, die über zwei Jahre einen jüdischen Jungen versteckt hatte.

Während das Buch in Deutschland fast unterging, hat es in Frankreich zahlreiche Preise erhalten und war ein großer Publikumserfolg.

Auch das von Bibiana Beglau in ihrer unvergleichlichen Art gesprochene Hörbuch möchte ich wärmstens empfehlen.

Und übrigens: „Heute leben wir“ wird als deutsch-französische Koproduktion verfilmt.

Emmanuelle Pirotte: Heute leben wir. Aus dem Französischen von Grete Osterwald. 288 Seiten, S. Fischer Verlag

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