Ein kurzer Meinungsaustausch während eines Workshops bildete den Ausgangspunkt für diesen Mailwechsel: Was hältst Du eigentlich von Daniel Kehlmanns neuem Roman „Du hättest gehen sollen“? Und so ging es auf digitalem Wege weiter:
Am 30.11.2016 18:16 schrieb Kai:
Liebe Claudia,
ich glaube, Deine Frage war, wie ich den Schluss verstanden habe? Ich habe das Buch schon vor ein paar Monaten gelesen, und ich kann mich immer nur relativ schlecht an die Handlung von Büchern oder Filmen erinnern, ich vermische da immer alles. Wenn ich das richtig in Erinnerung habe, laufen der Vater und die Tochter (oder der Sohn?) ja die Straße ins Dorf runter und kommen irgendwann wieder am Haus an. Sie sind also im Kreis gelaufen. – Das ist ein klassisches phantastisches Motiv, würde ich sagen. Steht meiner Meinung nach in diesem Fall dafür, dass sie gefangen bleiben in der Parallelwelt, in der sie gelandet sind. Solche surrealen Aspekte kommen bei Kehlmann ja immer wieder vor, das ist typisch für ihn.
Aber wie gesagt, ich muss das erst noch einmal genau nachlesen, um mehr dazu sagen zu können.
Wie fandest Du das Buch?
Viele Grüße,
Kai
Am 16.12.2016 14:21 schrieb Claudia
Lieber Kai,
mit schlechtem Gewissen schreibe ich erst jetzt: der Alltag frisst die Muse auf, die man halt doch braucht, um halbwegs vernünftig Buchinhalte wiederzugeben.
Leider geht mir das auch immer ganz massiv mit dem Vergessen von Handlungen; wenn ich gefragt werde, komme ich mir oft wie eine Hochstaplerin vor, die von Büchern redet, zu denen sie aber nichts sagen kann …
Ja, richtig ist, dass der Vater mit seiner kleinen Tochter – die Frau ist vor Wut abgereist, (warum war sie eigentlich wütend? Sie hat doch ihren Mann betrogen) zu Fuß nachts ins Dorf wollte, überstürzt, nur weg aus diesem schauerlichen Haus und dann, du sagst es, wieder vor dem Haus steht. Er kommt einfach nicht weiter, kann aber auch keine Hilfe holen, weil sein Telefon nicht funktioniert (Akku leer, oder kein Empfang, weiß nicht mehr). Und das ist dann schon beklemmend beschrieben: weg kommt er nicht, unerklärliche Geräusche im Haus, und immer ist es Nacht, wenn wieder etwas Unheimliches passiert. Resigniert er am Schluss? Seine Frau kommt ja wieder, holt das Kind ab, warum fährt er nicht mit?
Herzliche Grüße, Claudia
Am 29.12.2016 15:50 schrieb Kai:
Liebe Claudia,
meine Antwort hat jetzt auch wieder ein bisschen gedauert, eigentlich wollte ich umgehend zurückschreiben. Aber dafür habe ich das Buch zwischenzeitlich ein zweites Mal gelesen 🙂 Und zwar, weil wir am 19.12. eine Veranstaltung in Sendling hatten, wo wir Buchtipps für die Weihnachtszeit vorgestellt haben. Einer meiner Tipps war nun eben „Du hättest gehen sollen“. Und dann hab ich das Buch irgendwann vor dem Termin nochmal aufgeschlagen und gelesen, weil ich vom ersten Mal nicht mehr viel wusste. Als Lesezeit würde ich übrigens so gute 60 Minuten veranschlagen 🙂
Was mir jetzt neu aufgefallen ist: der zweite Teil hat wirklich was von einem Fantasy-Roman oder besser gesagt: Horror-Film. Ich lese ja sehr gern irgendwelche übersinnlichen Storys, und deshalb fand ich’s einfach klasse, wie die Realität hier immer stärkere Risse bekommt. Zum Beispiel gibt es ein Wandbild von einer mysteriösen Frau, das in der Waschküche des Ferienhauses hängt. Als der Erzähler es sich am nächsten Tag nochmal genauer anschauen will, ist es nicht mehr da. Stattdessen lauert die Frau mit den „eng beieinander liegenden Augen“ dem Erzähler in der nächsten Nacht in einem düsteren Albtraum auf… Und irgendwann versucht er, zur Eingangstür zu gehen, aber er kann nicht, denn der Flur dehnt sich ins Unendliche aus. Nur indem er rückwärts geht, schafft er es, das Haus zu verlassen.
Das erinnert mich alles schon sehr an Geschichten von Stephen King oder anderen guten Autoren im Phantastik-Genre. Ich bin deshalb auch ein bisschen überrascht, dass so viele Kolleginnen das Buch gelesen haben und gut finden. Anscheinend kommt es doch darauf an, welcher Name auf dem Buchdeckel drauf steht… Nun ja.
Ich glaub, arg viel mehr kann ich zu dem Buch jetzt nichts mehr sagen. Außer, dass ich mich schon auf einen neuen Roman von Daniel Kehlmann freue, weil er einfach einer meiner liebsten deutschen Schriftsteller ist. Weil ich immer so neugierig bin, was andere so lesen – hast du denn noch andere Sachen von ihm gelesen?
Viele Grüße,
Kai
Am 10.01.2017 14:30 schrieb Claudia:
Lieber Kai,
nach Urlaub und Feiertagen versuche ich mich noch ein letztes Mal in das Büchlein einzudenken, um vielleicht noch eine Info zum Ende des Buches von dir zu erhalten. Ja, ich stimme dir zu, dass sich, wie in einem fein subtilen Horrorfilm die Handlung immer mehr ins schaurige steigert. Aber wie siehst du den Schluss?? Hast du den nochmals genau gelesen? Am Ende meint er ja, er sei in zwei Wesen gespalten und wird seine Frau und sein Kind nie wieder sehen. Hat er das alles so erlebt, gab es überhaupt Frau und Kind?? Die leeren gezählten Seiten am Schluss, was bedeutet das? Oder gibt es gar nichts weiter zu interpretieren, einfach so nehmen, wie es zu lesen ist?
Gelesen habe ich von Kehlmann „Die Vermessung der Welt“, was ich genial fand und „Ruhm“, was ich gut fand, aber nicht so nachhaltig, wie die Vermessung.
Nun hoffe ich, du hattest einen guten Start ins neue Jahr.
Viele Grüße, Claudia
Am 18.01.2017 18:02 schrieb Kai:
Liebe Claudia,
zum Glück muss ich mich nicht auf mein löchriges Gedächtnis verlassen, denn ich hab mir schon vor Weihnachten das Buch nochmal ausgeliehen, und es bleibt bei mir, bis wir mit unserer Besprechung am Ende sind 🙂
Also, die Frage hat mir eine andere Kollegin auch gestellt – war alles nur ein Traum oder ist alles wirklich passiert? Weil ich es gerne dramatisch mag und die Vorstellung toll finde, dass so ein Szenario tatsächlich mal eintreffen könnte, würde ich sagen, das ist wirklich so wie beschrieben geschehen.
Am Ende ist er ganz allein in der Parallelwelt bzw. zusammen gefangen mit den anderen „Bewohnern“ des Hauses. Wahrscheinlich wird er mit der Zeit durchdrehen und wahnsinnig werden… 🙂 Deshalb wohl auch die leeren Seiten am Ende des Buchs.
Viele Grüße,
Kai
Am 19.01.2017 15:58 schrieb Claudia:
Lieber Kai,
ich muss sagen, dass diese Form, sich über ein Buch auszutauschen, richtig Spaß gemacht hat, mehr, als alleine sich allzu Bedeutendes zu einem Buch auszudenken. Das kann man/können wir gerne mit einem passenden Buch wiederholen.
Zum Kehlmann stimme ich dir zu, dass ich auch glaube, dass er (der Typ in dem Buch – wie hieß der eigentlich? – ja nicht Kehlmann) verrückt geworden ist oder es schon immer war. Geträumt hat er es zumindest nicht, da lege ich mich mal fest.
Herzliche Grüße, Claudia