Aus dem Leben gefallen

Manchester by the Sea. Ein Film von Kenneth Lonergan

Boston an einem grauen, matschigen Wintertag: Ein Mann Mitte, Ende Dreißig räumt vor einem Mietshaus Schnee, repariert eine verstopfte Toilette und erträgt stoisch die Launen der Mieter. Lee Chandler arbeitet als miserabel bezahlter Hausmeister und Mädchen für alles, ein wortkarger Einzelgänger, der in einem miesen Loch haust und seltsam emotionslos durchs Leben schleicht. Die trostlose Routine seines Lebens wird jäh unterbrochen, als ihn die Nachricht vom plötzlichen Herztod seines Bruders erreicht.

Ein schier unlösbarer Konflikt

Lee Chandler macht sich also auf den Weg in seine Heimatstadt Manchester by the Sea, einen eigentlich malerischen, um diese Jahreszeit aber recht unwirtlichen Küstenort im ländlichen Massachusetts. Und hier beginnt die eigentliche Geschichte: Lees verstorbener Bruder hat ihn ohne sein Wissen zum Vormund seines nun verwaisten Sohnes, des sechzehnjährigen Patrick, bestimmt. Dieses Testament stürzt Lee in einen schier unlösbaren Konflikt: Er liebt seinen Neffen, erinnert sich an schöne Stunden mit ihm, und es gibt in der Familie sonst niemanden, der sich die zwei Jahre bis zur Volljährigkeit um den Jungen kümmern könnte. Trotzdem ist ihm der Gedanke, längere Zeit in Manchester zu bleiben und Verantwortung für Patrick zu übernehmen, unerträglich – warum das so ist, bleibt zunächst Teil des Rätsels, das diesen verschlossenen, in sich zurückgezogenen Mann umgibt.

Lee will also nur vorläufig bei dem Jungen bleiben, nur so lange, bis die Formalitäten nach dem Todesfall abgewickelt sind. Trotzdem entwickelt sich zwischen dem ungleichen Paar eine Art Alltag, und es ist zugleich witzig und rührend zu sehen, wie für den Sechzehnjährigen bei aller Trauer das Leben weitergeht: Er spielt in einer ultracoolen und grottenschlechten Band, jongiert mit mindestens zwei Freundinnen und macht seinen Onkel zum widerwilligen Komplizen der daraus entstehenden amourösen Verwicklungen.

Intensives Drama

Gleichzeitig erfahren wir in zahlreichen Rückblenden mehr über Lees Vergangenheit. Wir sehen ihn als netten, leicht chaotischen Schluffi, der schon mal Nächte durchfeiert und seine Frau gelegentlich in den Wahnsinn treibt, und als liebevollen Vater, der ausgelassen mit seinen drei kleinen Kindern herumtobt. Nach und nach fügen sich die oft nur schlaglichtartigen Szenen wie in einem Puzzle zusammen, und schließlich erleben wir als Zuschauer fast schmerzhaft mit, was diesen Mann so aus furchtbar der Bahn, ja aus dem Leben geworfen hat …

„Manchester by the Sea“ ist ein ruhiges und intensives Drama, das mich von Anfang an in seinen Bann gezogen hat.
Da ist zum einen der großartige Casey Affleck als Lee Chandler – lange bevor wir den Grund dafür erfahren, lässt er uns spüren, was es heißt, die Last des eigenen Lebens eigentlich nicht mehr ertragen zu können. Wie ein Spiegel seiner Trauer und inneren Leere erscheint die farblose Melancholie des winterlichen Küstenorts: dünnes Schneetreiben, das graue Meer, unterlegt mit einem stimmigen Soundtrack. Und dazwischen kurze humorvolle Momente gerade in den Szenen mit dem Neffen (mehr als vielversprechend: Lucas Hedges) – ein kurzes Aufatmen inmitten der Schwere.

Regisseur und Drehbuchschreiber Kenneth Lonergan verbindet die schauspielerische Leistung seiner Protagonisten, Setting und Musik zu einem Gesamtkunstwerk, das einen lange nicht mehr loslässt.

Jeder einzelne der zahlreichen Preise für den Film erscheint mir mehr als verdient:

Oscar 2017: bester Hauptdarsteller
Golden Globe 2017: bester Hauptdarsteller
Oscar 2017: bestes Originaldrehbuch
Satellite Award for Best Film
Critics‘ Choice Movie Award / Beste Jungdarsteller: Lucas Hedges
National Sociery of Film Critics Award / Beste Nebendarstellerin: Michelle Williams

Manchester by the Sea. Regie und Drehbuch: Kenneth Lonergan. Mit: Casey Affleck, Lucas Hedges u.a., USA 2016, 132 Min.

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