„Die wahren Märchen meines Lebens“ von Barbara Fiorio
Prinzessinnen… die märchenhaften Traumfrauen versprechen kleinen Mädchen eine Glitzerwelt in Pink und Gold. Fragt sich nur zu welchem Preis. In ihrem tollen Roman um die Macht von Geschichten bürstet Barbara Fiorio Rapunzel und Co. kräftig gegen den Strich.
Eines Nachts stolpert Werbetexterin Giulia im Hausflur über Rebecca, die neunjährige Tochter ihrer Nachbarin Anna, einer alleinerziehenden Krankenschwester. Statt prägnante Sprüche über vegane Gummibärchen, Tiefkühlkost oder Gleitmittel sind jetzt Märchen angesagt. Kein Problem für Giulia, denn sie kennt „die wahren Märchen“. Diese unterscheiden sich deutlich von den aufgehübschten Märchen à la Disney, die Rebecca kennt: Es gibt in ihnen keine Fee nebst Kürbis, sie sind auffällig knapp und nüchtern. Giulias Grundlage sind die Urfassungen der Märchen. Weil sie Rebecca etwas über das wahre Leben erzählen, ihr Handlungsweisen aufzeigen will – erfolgversprechende und fatale. Und das mit trockenem Humor. Bei ihr ist Schneewittchen „gutgläubig wie ein Stallkaninchen“, Rapunzel „ein alleinstehendes Neuron mit zwei langen Zöpfen“. Und Cinderellas – korrekt: Aschenputtels – Prinz „konnte sich offenbar keine Gesichter merken. Und so einer wollte König werden!“ Die Geschichten öffnen Rebecca die Augen über die Lebenslügen ihres Umfelds und machen sie selbstbewußter. Als sie jedoch „die Mädchen mit den Glitzerhaarreifen“ in ihrer Klasse konfrontiert, und plötzlich Annas gewalttätiger Ehemann auftaucht, kommt es zur Krise…
Der Roman erreicht durch den Wechsel zwischen der Erwachsenen- und der Kindperspektive, den nächtlichen Märchenszenen neben Giulias Arbeitswelt, eine unterhaltsame Dynamik und Farbigkeit. Die Figuren wachsen einem schnell ans Herz. Giulia wird als leicht chaotische Karrierefrau geschildert, eine der „Verrückten von der vierten Etage“, die nonstop an ihren kreativen Ideen arbeiten; Rebecca hat in den Szenen mit den Erwachsenen teilweise Züge einer Psychotherapeutin, als Außenseiterin in der Schule wirkt ihre Gefühls- und Gedankenwelt jedoch authentisch. Beeindruckend überhaupt Fiorios Analyse der Klassensituation und der erschreckenden Ignoranz der Pädagogen. Unter den Nebenfiguren treten hervor: Lorenzo, Giulias Kollege als Mann für alle Lebenslagen sowie die tragisch-komische Figur des Leone, ein alternder Schauspieler, der nur in Shakespeare-Zitaten kommuniziert.
Ihr Hauptthema – die Macht von Geschichten – spiegelt die Autorin in jedem der Handlungsstränge: Im Falle der Werbetexte, die Giulia verfassen soll, mit einem Augenzwinkern, wird es im Fall von Annas gewalttätigem Ehemann mit aller Eindringlichkeit behandelt. Sowohl bei ihm als auch bei den „Haarreifen-Mädchen“ zeigt Fiorio, wie sehr wir uns von der Botschaft der „unwahren Märchen“ blenden lassen, dass die Schönen automatisch immer die Guten sind. Genauso entlarvt sie den dort geltenden Topos der romantische Liebe bei Giulias Verehrer durch komische Übertreibung, bei Anna durch die dramatischen Konsequenzen ihres Fehlurteils.
Was Fiorio dem entgegensetzt, ist die Kraft der „wahren Märchen“. Außerdem: Beziehungen auf realistischer Grundlage, in denen Werte, wie füreinander einstehen und Verantwortung gelten – Giulias „Romeo“ heißt nicht zufällig Lorenzo wie der abgeklärte, weise Pater aus dem Shakespearestück. Und berufliche Selbstverwirklichung wie bei den“Verrückten von der vierten Etage.“
Barbara Fiorio ist Sprecherin des Bürgermeisters von Genua. Mit dem vorliegenden Roman erzielte sie in Italien ihren Durchbruch.
„Die wahren Märchen meines Lebens“ von Barbara Fiorio im Onlinekatalog der Münchner Stadtbibliothek
Urfassung der Märchen der Brüder Grimm im Onlinekatalog der Münchner Stadtbibliothek
Kritische Auseinandersetzung mit dem Thema „Prinzessinnenkult“:
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/maedchenkultur-rosa-rollback-11970522.html
http://www.emma.de/artikel/die-cinderella-industrie-265862
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