Alice treffen

Alice Munro: Ferne Verabredungen (Erzählungen)

Bevor die kanadische Schriftstellerin Alice Munro 2013 den Literaturnobelpreis bekam, war mir ihr Name zwar irgendwie geläufig, aber gelesen hatte ich noch nichts von ihr. Inzwischen kenne ich viele ihrer Kurzgeschichten. Wer bisher noch nicht die Gelegenheit hatte, etwas von ihr zu lesen, dem empfehle ich den Band „Ferne Verabredungen“.

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Laut Verlag sind für diese Sammlung die schönsten Erzählungen ausgewählt. Zusätzlich enthält der Band auch eine zum ersten Mal ins Deutsche übersetzte frühe Erzählung mit dem Titel „Die Dimensionen eines Schattens“. Tatsächlich bekommt man hier einen guten Eindruck von Munros Werk, zumal ein Anhang biographische Informationen liefert.

Was mich an Alice Munros Geschichten immer wieder fasziniert, ist die Art, wie sie mit wenigen Sätzen starke Persönlichkeiten schafft und facettenreiche Lebensläufe skizziert. In der Erzählung „Jakarta“ erfahren wir gerade so viel über die vier Protagonisten wie nötig und können doch daraus auf ihr gesamtes Leben schließen. Zu Beginn der Erzählung lernen wir zwei Freundinnen und ihre jeweiligen Partner kennen. Kath und Kent sind verheiratet, frischgebackene Eltern und suchen ein Haus; Sonje und Cottar führen eine eher unkonventionelle Beziehung. Am Ende sind beide Paare getrennt. Kent und Sonje treffen sich nach Jahren wieder und in dieser Begegnung werden die Lebensläufe aller vier sichtbar.

Bewundernswert ist auch, wie sich Munros Geschichten aus einer kleinen Situation heraus entfalten. Die Erzählung „Hasst er mich, mag er mich, liebt er mich, Hochzeit“ beginnt mit einer nahezu alltäglichen Situation:

Vor Jahren, als die Züge noch auf vielen Nebenstrecken verkehrten, betrat eine Frau mit hoher sommersprossiger Stirn und rötlichem Kraushaar den Bahnhof und erkundigte sich nach dem Versand von Möbeln.

Nach und nach entspinnt sich eine völlig verwickelte Geschichte um eine alte Jungfer, zwei junge Mädchen und einen Taugenichts, von der ich dachte, sie könne auf keinen Fall gut ausgehen. Weit gefehlt, diese Geschichte hat ein echtes Happy End.

Allerdings enden viele von Munros Erzählungen eher vage. Für mich fühlt es sich manchmal an, als begegne man den Figuren zu einem bestimmten Zeitpunkt, begleite sie ein Stück ihres Weges und verlasse sie an einem anderen Punkt einfach wieder. Das Leben geht weiter. Aus diesem Rahmen fällt aber die etwas längere Kurzgeschichte „Zu viel Glück“. Hier erzählt Munro von den letzten Lebensjahren der Mathematikerin Sofia Kowalewskaja, die 1884 an der Universität Stockholm die weltweit erste Professorin für Mathematik wurde. Diese Geschichte endet mit deren Tod.

„Du weißt, dass einer von uns sterben wird“, sagt sie. „Einer von uns wird in diesem Jahr sterben.“ Er hört nur mit halbem Ohr zu und fragt: „Wieso das?“ „Weil wir am ersten Tag des neuen Jahres auf dem Friedhof spazieren gehen.“

Der Mittelpunkt all ihrer Erzählungen ist die Lebenswelt von Frauen. Erwartungen, die an sie herangetragen werden und wie sie damit umgehen. Munro selbst nahm die traditionellen Rollen der Mutter, Ehe- und Hausfrau ein. Wir können dankbar sein, dass sie sich nicht darauf beschränkte, sondern wie besessen an einem kleinen Tisch in ihrer Küche schrieb und dabei herausragende Literatur geschaffen hat.

„Ferne Verabredungen“ im Onlinekatalog der Münchner Stadtbibliothek

Alice Munro: „Ferne Verabredungen“, 440 S., S. Fischer Verlag

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