Wenn nicht nur der Abgabetermin drängelt

Tilmann Rammstedt: Morgen mehr (Roman)

Eine Schaltsekunde, ein geklauter Mercedes und zahlreiche gegessene Ravioli (alle wegen Claudia!) sind nur ein paar der Wendungen, auf die man in Tilman Rammstedt neuem Roman „Morgen mehr“ trifft. Das ganze Buch liest sich ein wenig anders als alles, was ich bisher gelesen habe – und das liegt nicht nur an der berührend schönen Schreibe des Autors.

Nein, vielmehr ist „Morgen mehr“ ein Live-Fortsetzungsroman. Der Autor versprach zwei neue Seiten pro Tag, im Vorfeld konnte man für acht Euro Abonnent oder Abonnentin bei diesem ungewöhnlichen literarischen Projekt werden. Rammstedt schreibt seine Bücher nach eigenem Bekunden gern unter Zeitdruck; da liegt der Übergang zum „Live-Schreiben“ nahe.

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Das „Dings“ (so die Homepage) rund um „Morgen mehr“ wurde auf der Frankfurter Buchmesse 2016 mit dem Virenschleuder Preis für die „Ansteckendste Idee“ ausgezeichnet.

Während er „Morgen mehr“ schrieb, erreichte die Geschichte Stück für Stück seine Leser auf ganz unterschiedliche Weise: per E-Mail verschickt, auf der Verlagsseite veröffentlicht oder auch über den Nachrichtendienst Whatsapp. Sogar eingelesen wurden die manchmal mehr, manchmal weniger Seiten vom Autor – wer wollte, konnte sich diese also gleich beim Frühstück sogar per Podcast zu Gemüte führen. Die Leserinnen und Leser waren auch dazu angeregt, sich einzubringen: 3586 Kommentare wurden während des Entstehungsprozess des Romans auf der Verlagshomepage hinterlassen. Kommentare voller Lob, Kritik und Begeisterung.

Das Erscheinen von „Morgen mehr“ wurde Anfang des vergangenen Jahres für den Sommer 2016 angekündigt, zu diesem Zeitpunkt gab es aber laut der Verlagsseite tatsächlich noch keine einzige geschriebene Seite; entstanden ist der Roman schlussendlich zwischen dem 11. Januar und dem 9. April 2016. Der Autor sagte in einem Interview, er hätte „keine Idee, nur das Wissen um die Ausgangssituation“ gehabt. Und die hat es wahrlich in sich: Ein namenloser Erzähler blickt scheinbar auf sein Leben zurück, er vermisst seine Frau und Kinder, er erinnert sich an den Namen seines besten Freundes, er zieht Bilanz über Jahrzehnte. Nur: All das ist noch nicht passiert, der Erzähler ist noch nicht einmal geboren, berichtet aber schon jetzt, wie sein Leben einmal verlaufen wird. Beziehungsweise: Wie es hoffentlich sein wird, denn zuallererst muss er alles nur Mögliche tun, um seine Eltern überhaupt zusammenzubringen, das Zeitfenster für seine Zeugung endet in knapp 24 Stunden. Das Problem hierbei ist, dass seine zukünftige Mutter gerade in Marseille dabei ist, sich mit einem auffallend schwermütigen Südfranzosen einzulassen, während sein liebeskranker potentieller Vater mit einbetonierten Füßen in Frankfurt in den Main geworfen wird. Was alles passieren muss, damit sich diese beiden doch noch kennen lernen, und welch überraschend große Anzahl an ganz unterschiedlichen Leuten dazu nötig sind: Davon handelt die Geschichte. Und von noch so viel mehr.

„Morgen mehr“ ist der erste Roman des Autors (der unter anderem schon mit so prominenten Auszeichnungen wie dem Ingeborg-Bachmann-Preis und dem Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis geehrt wurde), den ich gelesen habe. Deswegen kann ich keine Vergleiche zu seinen Vorgängerwerken ziehen. Sind seine anderen Romane auch wunderschöne, tragikomische Roadtrips mit philosophischem Einschlag? Ich kann das nur annehmen und werde mich demnächst selbst überzeugen. „Morgen mehr“ handelt vom Schicksal und der Zeit und von den Versuchen, die beiden auszutricksen. Natürlich geht es auch um die Liebe – bei dieser Ausgangssituation ja quasi ein Muss –, aber weniger um die romantische; es geht vielmehr darum, wie sie entsteht, wo sie einmal hingeht und was man sich (unbewusst) davon erhofft, zu lieben. Der Roman handelt von Flucht und Ankommen, von den wirklich wichtigen Fragen des Lebens, von Plänen und Versprechen, Lügen und Platzhaltern, einer Schaltsekunde, Paris – und einem Schaf. Geeignet also für die Fans von verwinkelten Familiengeschichten, denen es nichts ausmacht, trotz des skurrilen Humors nach der letzten Seite ein klein wenig melancholisch zurückzubleiben.

Allen Interessierten möchte ich gerne die sehr unterhaltsame Homepage www.morgen-mehr.de empfehlen, in der nicht nur Rammstedt von seinen Erfahrungen erzählt, sondern auch sein sympathisches Lektoratsteam hinter die Kulissen blicken lässt.

Tilman Ramstedt: Morgen mehr. 224 Seiten, Hanser Verlag

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