Was hat Jewgenia gesehen?

Natascha Wodin: Sie kam aus Mariupol (Roman)

Natascha Wodin weiß nicht viel über ihre Mutter Jewgenia. Als Kind hört sie sie sagen: „Wenn du gesehen hättest, was ich gesehen habe“. Sie weiß, dass ihre Eltern als Zwangsarbeiter aus der Ukraine nach Deutschland kamen und blieben. Ihre Mutter brachte sich um, als Natascha Wodin 10 Jahre alt war. Es gibt ein paar Begriffe, die sie mit ihr verknüpft – der Großvater sei Kohlenhändler gewesen, Geisteskrankheit sei häufig in der Familie vorgekommen und die Großmutter sei Italienerin gewesen.

Immer wieder hat Wodin erfolglos versucht, Spuren von Jewgenias Lebens zu finden. Als sie den Namen der Mutter wieder einmal in eine russische Suchmaschine tippt, erhält sie zum ersten Mal einen Treffer.

Der Link führt zur Seite „Azov’s Greeks“, einem Forum für griechischstämmige Ukrainer. Es gibt auch eine Plattform für die Suche nach Angehörigen, auf der Natascha Wodin eine Nachricht hinterlässt. So kommt sie in Kontakt mit Konstantin, der ihr bei der nachfolgenden Recherche eine große Stütze ist.

Meine Mutter war immer eine innere Figur für mich geblieben, Teil einer vagen, im Ungefähren angesiedelten Privatvita, die ich mir jenseits politischer und historischer Zusammenhänge erfunden hatte, in einem Niemandsland, in dem ich ein herkunftsloses, wurzelloses Einzelwesen war.

Mit ihrer Recherche „Sie kam aus Mariupol“ beginnt Wodin, die Geschichte ihrer Mutter in eben diese historischen Zusammenhänge einzuordnen.
Im ersten Teil schildert sie die mühevolle Suche nach Verwandten, nach Fakten über die Herkunft der Mutter. Sie findet einiges über die Geschwister ihrer Mutter – Lidia und Sergej – heraus.

Ich muss zugeben, dass ich an manchen Stellen von all den Namen und Orten verwirrt war. Manchmal mutet dieser Teil fast wie ein Strudel an, in den man hineingezogen wird. Mir schien es allerdings so, als sei es auch der Autorin so gegangen, als sei sie zeitweise von all den Geschichten überwältigt gewesen, die sie zutage gefördert hat.

Es stellt sich heraus, dass die Mutter aus gutem Hause stammte. Die Familiengeschichte ist geprägt von Gewalt und Konflikten, häufig durch politische Umstände hervorgerufen. Ihre Tante Lidia beispielsweise wurde in den dreißiger Jahren nach Sibirien verbannt. Auf verschlungenen Wegen gelangt die Autorin an deren Aufzeichnungen. Diese bieten der Autorin den einzig verfügbaren Anhaltspunkt zu Kindheit und Jugend ihrer Mutter. Fast atemlos erzählt sie Lidias Erinnerungen im zweiten Teil des Buches nach. Sie schildert die Umstände unter denen die Tante studiert, verhaftet wird und wie sie in Sibirien das Lager erlebte. Zu ihrer Mutter und deren Studium kann sie jedoch nur Mutmaßungen anstellen, hält es aber für wahrscheinlich, dass sie denselben Repressalien ausgesetzt war wie ihre ältere Schwester.

Im dritten Teil befasst sich die Autorin mit der Geschichte ihrer Eltern. Beide kamen als Zwangsarbeiter aus der Ukraine nach Deutschland. Anfangs wurden Arbeiterinnen und Arbeiter mit Propaganda angeworben, aber sobald die Wahrheit über die Lebensumstände der Zwangsarbeiter in Deutschland in der Ukraine bekannt war, gab es kaum noch Freiwillige. Ob Wodins Eltern freiwillig gingen oder verschleppt wurden, ist nicht klar. Sie kamen nach Leipzig, wo sie bei Kriegsende noch waren. Die Eltern schafften es, in Deutschland zu bleiben und landeten in Nürnberg. 1945 kam Natasche Wodin in Fürth zur Welt.

Im vierten Teil beschreibt Wodin ihre Kindheit in Nürnberg. Dort lebten sie in ärmlichsten Verhältnissen, geduldet von einem Fabrikbesitzer, auf dessen Gelände in einem Schuppen. Eigentlich hätten sie in ein Lager für Displaced Persons verlegt werden sollen, doch der Fabrikbesitzer hielt seine schützende Hand über sie. Nach fünf Jahren wurden sie dennoch in das große Lager in Nürnberg-Langwasser eingewiesen. Die Zustände dort waren schrecklich, in der Schule schlug dem Mädchen Natascha zudem unverhüllter Hass vonseiten ihrer Mitschüler, aber auch ihrer Lehrerin entgegen.

Fräulein Schorrn, die Lehrerin, eine germanische Blondine mit stahlblauen Augen, die nie den Rohrstock aus der Hand legt und nicht mit den gefürchteten Tatzen spart, ist kein Schutz für mich, im Gegenteil. Mit ihren Erzählungen von den Gräueltaten der Russen, von ihrer Mordgier und Bestialität, fordert sie meine Mitschüler geradewegs dazu auf, über mich herzufallen. Ich bin ein willkommenes Ventil für die angestauten Aggressionen der Kinder, bei denen zu Hause nach wie vor der Geist nationalsozialistischer Zucht herrscht und die in dem lückenlosen Schweigen der Nachkriegszeit an Erstickung leiden. Durch ihre gewalttätigen Ausbrüche gegen mich verschaffen sie sich kurzzeitig Luft.

Die Mutter verlor mehr und mehr den Halt, der Vater trank viel und war gewalttätig, beschimpfte die Mutter als geisteskrank. Die schönsten Momente sind die, in denen die ganze Familie gemeinsam singt. Der Vater versuchte sich glücklos an einer Hühnerfarm, ging schließlich mit einem Kosakenchor auf Tournee. Die Mutter sprach immer häufiger von Selbstmord.

Die letzten Seiten gehören zu den beklemmendsten des Buches: Wie die zehnjährige Natascha ihre Mutter beobachtet um zu verhindern, dass sie sich etwas antut. Wie die Mutter ankündigt, die Kinder mit in den Fluss nehmen zu wollen. Wie Natascha ihre kleine Schwester alleine zuhause vorfindet, fiebrig von Masern. Wie sie in der Leichenhalle ihre tote Mutter sucht und findet und betrachtet.

Natascha Wodins Familiengeschichte entwickelt eine starke Sogwirkung. Was mit Naturbetrachtungen und verzauberter Atmosphäre an einem See vor den Toren Berlins beginnt, entwickelt sich zu einem mitreißenden Strudel, der vieles aufwühlt – aus der Geschichte der Ukraine, Totgeschwiegenes über die Zwangsarbeiter und den Schmerz darüber, was politische Umstände Familien antun können.

Natascha Wodin: Sie kam aus Mariupol. 368 Seiten, Rowohlt Verlag

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