Vergangenheit bewältigen, ankommen in der Gegenwart

J.L. Carr: Ein Monat auf dem Land (Roman)

1920, in der kleinen englischen Ortschaft Oxgodby: Der junge Tom Birkin soll ein mittelalterliches Fresko mit einer Szene aus dem Jüngsten Gericht freilegen. Mit seinem ersten Job als Restaurator versucht er nicht nur, etwas Geld zu verdienen, sondern auch Abstand vom Wahnsinn der Welt seiner Zeit zu gewinnen.

Restaurierung von Bild und Mensch

Denn der erst 25-Jährige leidet furchtbar unter den Eindrücken, die er als Soldat im Ersten Weltkrieg gesammelt hat, und sieht die Auszeit auf dem Land auch als Chance, Abstand zu den Wirrnissen seiner gescheiterten Ehe zu gewinnen. Er macht sich mit der ihm eigenen Demut vor der Kunst an die Arbeit und vermittelt uns so ganz nebenbei einiges über mittelalterliche Malerei. Er entdeckt in dem Bild nicht nur ein echtes Kunstwerk, sondern enträtselt auch ein paar versteckte Hinweise und alte Geheimnisse über das Dörfchen Oxgodby und seiner Bewohner.

Als Restaurator gilt er als Künstler und damit als Sonderling. Und das macht ihn frei: Er kann so verschroben sein wie er will, er wird von den Dorfbewohnern trotzdem oder vielleicht sogar ein wenig wegen dieser Andersartigkeit geschätzt. Auch seine Ticks, das Stottern und die unkontrollierten Gesichtszuckungen, die in der Stadt schnell als Kriegstrauma diagnostiziert werden (heute würden wir wohl post-traumatische Belastungsstörung dazu sagen), nehmen alle einfach als Eigenheit hin. Durch die Freundschaft zum unkonventionellen Archäologen Moon, der zärtlichen Schwärmerei für die schöne, aber leider verheiratete Alice und der immer gleichen Arbeitsroutine scheint er im Laufe der Wochen langsam wieder in der Gegenwart anzukommen und so auch vorsichtig zu heilen.

Wiederentdeckung – auch als Hörbuch

Das schmale Bändchen hat keine 200 Seiten und kann so locker im Laufe eines Nachmittags durchgelesen werden. Idealerweise während man irgendwo draußen im Grünen sitzt und sich einbilden kann, gerade das britische Landleben zu genießen. Das Buch entführt in eine andere Zeit, es ist eine romantische Geschichte, dabei voll von britischem Charme und hintergründigem Witz und schafft es so, die Story nie ins Kitschige abgleiten zu lassen.

Der Roman erschien in England bereits 1980 und wurde 1987 mit Colin Firth in der Hauptrolle verfilmt, bei uns ist die Übersetzung aber erst im vergangenen Jahr erschienen. 26 lange Jahre mussten wir auf die deutsche Übersetzung dieser klugen und rührenden Geschichte warten. Um so schöner ist es, dass dieses Jahr nun auch gleich das Hörbuch umgesetzt wurde, das von Heiko Ruprecht kongenial eingelesen wird. Bei ihm wirkt das Stottern Birkins nie störend oder aufgesetzt. Im Gegenteil, es unterstreicht seine Verletzlichkeit, ohne sich in Vordergrund zu drängen.

J.L Carr: Ein Monat auf dem Land. Aus dem Englischen von Monika Köpfer. Dumont Verlag, 158 Seiten.
Hörbuch: Ungekürzte Lesung von Heiko Ruprecht. Der Audio-Verlag, 4h 13 min, 4 CDs.

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