Schöne neue Welten!

Über Neuerscheinungen, Neuauflagen und Neuausrichtungen in der Science Fiction

Science-Fiction ist wieder da. Manche fragen sich jetzt vielleicht: War dieses Genre jemals weg? Nein, natürlich nicht! Aber seit einigen Monaten gibt es soviel Neues, dass das besondere Interesse von meiner Kollegin Eva und mir, Stefanie, geweckt war.

Ich war nie ein Hardcore-Fan, aber wenn Freunde mir gut gemachte Science-Fiction-Romane empfahlen, habe ich früher immer mal wieder gern zugegriffen: Stanislaw Lems psychologisch faszinierender Klassiker „Solaris“; Arthur C. Clarke („2001 – Odyssee im Weltraum“, „Rama-Zyklus“, „Die letzte Generation“) und Stephen Baxter, die Fragen nach der Zukunft der Menschheit verbinden mit viel Spaß an technisch-naturwissenschaftlichem Know How; Isaac Asimovs herrlich komische Kurzgeschichte „Vernunft“, in der sture Roboter-Logik Decartes ad absurdum führt. Dann wurde es eher still um diese Art der Literatur – mal abgesehen von Thrillern, bei denen ein eher lieblos gestaltetes Zukunftsszenario mehr oder weniger nur dazu dient , dass der Held mal wieder die Welt retten kann.

Renaissance der Science Fiction

Doch vor einigen Jahren fing es wieder an, spannend zu werden: Der Russe Sergej Lukianenko spielt in seinen „Weltengänger“-Romanen mit der Idee von Paralleluniversen – eine faszinierende Vorstellung, die auch im Zentrum des „Lange Erde“-Zyklus steht, den Stephen Baxter und der mittlerweile verstorbene Terry Pratchett (ja, der mit der „Scheibenwelt“) gemeinsam verfasst haben. Und mittlerweile erlebt der Buchmarkt fast eine Art Renaissance fesselnder, innovativer und zum Teil recht anspruchsvoller Science-Fiction-Romane. Dabei ist es spannend zu beobachten, dass ein Trend aus dem Jugendbuch nun auch in der Erwachsenenliteratur Einzug hält, nämlich: Dystopien (früher sprach man eher von Anti-Utopien); Romane also, die ein zutiefst pessimistisches, oft alptraumhaftes Bild vom Leben in der Zukunft entwerfen: die Menschheit wird von oft menschengemachten Naturkatastrophen heimgesucht, ein totalitärer Überwachungsstaat vernichtet Individualität und Privatheit, oder, im Gegenteil, wegen fehlender staatlicher Ordnung ist eine ohnmächtige Mehrheit der Willkür weniger Mächtiger ausgeliefert …

Typische dystopische Landschaft: keine Hoffnung, nirgends.

Anders als in der Science Fiction stehen bei Dystopien mehr die gesellschaftlichen Strukturen im Mittelpunkt, gegen die der Einzelne oder eine Gruppe sich – oft vergeblich – auflehnt. Und oft ist es die Intention des Autors, mit düsteren Worst-Case-Szenarien auf bedenkliche Entwicklungen der Gegenwart aufmerksam zu machen und vor deren Folgen zu warnen. Fast unnötig zu sagen, dass die Grenzen zwischen beiden Genres, zwischen sozialkritischer Science Fiction und Dystopie, oft fließend sind. (Trotzdem haben wir von der Münchner Stadtbibliothek uns entschlossen, diese beiden neu erstarkten Genres unseren Kundinnen und Kunden in z w e i neuen so genannten Interessenkreisen, Science fiction und Dystopie, zu präsentieren, denn nicht jede_r, der/die technikbegeisterte Space Operas liebt, mag sich mit apokalyptischen Zukunftsszenarien auseinandersetzen … und umgekehrt).

Eva und ich würden euch gerne noch ein paar Titel vorstellen, die wir für besonders bemerkenswert halten. Nämlich:

Kim Stanley Robinson: Aurora

Das Raumschiff „Aurora“ ist ein riesiges „Generationenschiff“, an Bord etwa 2000 Menschen, die in erdähnlich gestalteten Biotopen leben. Ihre Vorfahren – Astronauten und Wissenschaftler – haben sich vor 160 Jahren auf den Weg gemacht, um einen erdähnlichen Planeten im Tau-Ceti-Sonnensystem zu „terraformen“ und damit eine neue Welt für die Menschheit zu finden.

Das Buch erzählt von den Herausforderungen dieser langen Reise, von unerwarteten Schwierigkeiten am Zielort, von menschlichen und allzumenschlichen Konflikten, die natürlich gerade dann auftreten, wenn es schwierige Entscheidungen zu treffen gilt und dabei unvereinbare Überzeugungen aufeinanderprallen … Zugegeben: ein bisschen Spaß an technischen und biologischen Gedankenspielen (z.B. die Beschreibung der Probleme, die in einem relativ kleinen, isolierten Ökosystem fast zwangsläufig auftreten) sollte man vielleicht haben – aber im Wesentlichen erzählt Kim Stanley Robinson von einer Gruppe Menschen, die sich einer Herausforderung stellen müssen, die sie sich nicht aussuchen konnten, von ihren Wünschen, Ängsten und Sehnsüchten. Was mir besonders gefallen hat: Im Zentrum der Geschichte stehen zwei Frauen, Mutter und Tochter, und beide sehr starke, vielschichtige und überzeugende Charaktere.

Kim Stanley Robinson: Aurora. Aus dem Amerikanischen von Jakob Schmidt. 560 Seiten, Heyne Verlag


Daryl Gregory: Afterparty

Drogen zum Ausdrucken! In „Afterparty“, den ich eher als SciFi-Thriller bezeichnen würde, ist das möglich. Hauptcharakter ist die Neurochmikerin Lyda Rose, die mitgeholfen hat, die Modedroge Numen zu erfinden. Wer Numen nimmt, findet zu seinem eigenen Gott. Lyda Rose wird seit einer versehentlichen Überdosis vom Engel Dr. Gloria begleitet und kommt deshalb in die Psychiatrie. Dort erfährt Lyda, dass eine Mitpatientin nach der Einnahme von Numen Selbstmord begangen hat – sie ist schockiert: Nach ihrer Überdosis hätte Numen eigentlich unter Verschluss bleiben müssen. Wer ist dafür verantwortlich, dass es dennoch überall erhältlich ist? Lyda will die Sache aufklären und ist dabei nicht allein: Gemeinsam mit der ehemaligen Geheimagentin Ollie und ihrem eingebildeten Engel macht sie sich auf die Suche.

Ein starker Plot, spannende Wendungen und mehrdimensionale Charaktere, die eine tolle Entwicklung durchlaufen: klare Empfehlung!

Daryl Gregory: Afterparty. Aus dem Englischen von Frank Böhmert. Fischer Tor Verlag, 400 Seiten


Margaret Atwood: Der Report der Magd

„Der Report der Magd“ aus dem Jahr 1985 ist ein dystopischer Klassiker, den ich dem Leser gerne ans Herz legen möchte. Da der Roman 2017 hochgelobt für den Streaming-Anbieter Netflix als Serie verfilmt wurde, wollte ich wissen, wie sich die literarische Vorlage liest. Im einem Wort: beängstigend.

In den Vereinigten Staaten kommt es nach einem Nuklearkrieg, der viele Menschen unfruchtbar gemacht hat, zu einem Putsch durch die Gruppe „Söhne Jakobs“; der Präsident wird ermordet und die Verfassung außer Kraft gesetzt. Anschließend werden Frauen aller ihrer Rechte enthoben: Sie dürfen nicht mehr arbeiten, ihre Konten sind nicht mehr zugänglich, ihr ganzer Besitz geht an den nächsten männlichen Verwandten über. Man steigt in die Geschichte ein, als dieser Zustand schon ein paar Jahre vorherrscht: Wir lernen Desfred kennen, eine sogenannte Magd. In dieser neuen Welt, die streng in völlig neue Klassen unterteilt wurde, haben die sogenannten Kommandanten Zugriff auf fruchtbare Frauen, die „Mägde“, um sich mit diesen fortzupflanzen. Desfred kommt ins Haus des Kommandanten und dessen Frau, wo sie sich von dem Mann regelmäßig „begatten“ lassen muss. Sie lebt ein einsames Leben, ist fortwährend Demütigungen ausgesetzt und sehnt sich nach ihrem Mann und ihrer Tochter. Aber auch in dieser düsteren Zukunftsvision blühen zarte Knospen der Revolution…

In Amerika gehen bei Demonstrationen gegen Donald Trump Frauen inzwischen manchmal in dem durch die Netflix-Verfilmung populär gewordenen Gewand der Mägde auf die Straße. Das ist ein starkes Zeichen: Auch für mich war, neben all dem Leid in der Geschichte, am verstörendsten zu lesen, wie wenig eigentlich nötig ist, um völlig entmündigt zu werden. Und dass alles, was Atwood, die 2017 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt,  in dem Roman beschreibt, irgendwo und irgendwann in einem anderen Kontext so und so ähnlich schon einmal passiert ist. Umso wichtiger ist es, dagegen anzugehen. Nicht nur in Amerika.

Margaret Atwood: Der Report der Magd. Aus dem Amerikanischen von Helga Pfetsch. 416 Seiten, Piper Verlag


Ursula K. Le Guin: Freie Geister

„Freie Geister!“ ist kein neuer Roman: 2017 aber gönnte der Verlag Fischer Tor dem deutschsprachigen Publikum eine Neuübersetzung des 1974 erschienenen Science-Fiction Klassikers. Ältere Ausgaben sind den Lesern auch unter den Titeln „Planet der Habenichtse“ oder „Die Enteigneten“ bekannt.

Die Geschichte spielt auf den Doppelplaneten Urras und Anarres. Eigentlich auf Urras lebend, müssen Aufständische nach einer gescheiterten Revolution nach Annares umsiedeln. 200 Jahre lang leben die Menschen auf diesen Planeten isoliert voneinander, unterbrochen lediglich durch einen regelmäßigen Austausch von Waren. Die Doppelplaneten und die Menschen, die dort leben, entwickeln sich in dieser Zeit auf ganz verschiedene Weise, sie bilden unterschiedliche Lebens- und Gesellschaftsformen aus. Ein genialer Wissenschaftler, der unter anderem an Reisen mit Überlichtgeschwindigkeit arbeitet, leidet darunter, dass seine Forschung auf seinem Heimatplaneten Annares gering bewertet wird. Von Forscherkollegen auf Urras erhofft er sich mehr Zuspruch und bricht trotz aller Bedenken dorthin auf. Konflikte sind da programmiert…

Ursula K. Le Guin: Freie Geister. Aus dem Englischen von Karen Nölle. 432 Seiten, Fischer Tor

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