Nigeria erlesen

Ein Dutzend Empfehlungen, wie man Nigeria literarisch erleben kann

Nigeria ist eine Erfindung. Der Staat, heute der bevölkerungsreichste des afrikanischen Kontinents, entstand 1914 durch die nominelle Zusammenlegung der britischen „Protektorate“ Nord-Nigeria und Süd-Nigeria zur Kolonie Nigeria: ein Gebiet, auf dem zahllose jahrhundertealte Kulturen lebten, die nun zu einer Nation und zu Englisch als gemeinsamer Sprache zwangsvereint wurden. 1960 entließ Großbritannien das Land in die Unabhängigkeit; nur sieben Jahre später brach der Biafrakrieg aus, ein denkbar brutaler Bürgerkrieg, der das Land zum wohl ersten Mal in den Mittelpunkt der Weltöffentlichkeit rückte – und weiterhin das nationale Trauma Nigerias darstellt.

(Wenn hier von „nigerianischer“ Literatur die Rede ist, dann ist damit jene Literatur gemeint, die nach der Erfindung dieses Landes und in der Amtssprache Englisch entstanden ist: eine Nationalliteratur, die es vorher nicht gab, weil es vorher Nigeria nicht gab. Damit soll nicht behauptet werden, dass vor 1914 keine Kultur in diesem Gebiet vorhanden war – gerade das Gegenteil ist der Fall.)

Kolonialismus

Aus den Bildarchiven der New York Public Library: Eisenbahnbau in Nigeria im Jahr 1911.

„The Palm-Wine-Drinkard“ (dt. „Der Palmweintrinker“) von Amos Tutuola (im Onlinekatalog der Münchner Stadtbibliothek) ist der erste anglophone nigerianische Roman. Er entstand 1946 und wurde 1952 erstmals publiziert. Und dieses Buch hat es wirklich in sich, denn es stellt ein fantastisches Crossover aus Yoruba-Legenden, christlicher Abenteuerliteratur und nigerianischem Alltag dar. Geschrieben wurde der Roman auf Pidgin – also in der Sprache, die im Zusammenprall von Nigerias Bevölkerung und den Sklavenhändlern wie Kolonialisten entstand. „Der Palmweinzapfer“ inszeniert eben jenen Clash of Cultures, der dieses Land ist, auf mehrfache Weise. Die deutsche Übersetzung kann davon natürlich nicht alles einfangen, lohnt aber dennoch.

Die Bedeutung von Amos Tutuola wurde nicht nur von Literaten, sondern von ganz unterschiedlichen Künstlern erkannt. In der populären US-Fernsehserie „Law & Order“ ist eine Figur von Tutuola inspiriert, der von dem Rapper Ice-T verkörperten Ermittler Odafin Tutuola. Die Musiker Brian Eno und David Byrne wiederum benannten ein Album nach Tutuolas zweitem Roman „Life in the Bush of Ghosts“.

Chinua Achebes „Things Fall Apart“ (dt. „Alles zerfällt“) (Onlinekatalog) gilt als Gründungstext der nigerianischen Literatur. Der Roman erschien 1958 und eröffnete 1962 die legendäre „African Writer Series“ des britischen Heinemann-Verlags. Achebes Debüt – der Autor war damals 28 Jahre alt – erzählt am Beispiel des Schicksals von Okonkwo vom Auseinanderfallen von Biografien und Lebenswelten in der Folge von Christianisierung und Kolonialisierung. Klar, spannend, bewegend: bester Einstiegstext für alle, die sich mit nigerianischer Literatur beschäftigen möchten. Leider weniger bekannt, aber doch als weiblicher Achebe zu verstehen, ist die nigerianische Autorin Buchi Emecheta (Onlinekatalog).

Unabhängigkeit

Das Jahr 1960 geht als „Afrikanisches Jahr“ in die Geschichte ein: Insgesamt 18 Kolonien in Afrika (14 französische, zwei britische, je eine belgische und italienische) werden, teils relativ unvermittelt in die Unabhängigkeit entlassen. Darunter ist auch Nigeria, das immerhin seit ein paar Jahren bereits die Selbstverwaltung in den verschiedenen Provinzen übt. Ein neues literarisches Genre entsteht durch die zunehmende Bürokratisierung, Institutionalisierung und Urbanisierung: die Großstadt-Literatur. Einer ihrer hervorragendsten Vertreter ist Cyprian Ekwensi (Onlinekatalog) mit seinen Romanen „People Of The City“ (1954) und „Jagua Nana“ (1961). Besonders bemerkenswert ist seine Perspektive auf weibliche Schicksale.

Literarisch nachhaltig beeindruckt hat mich von den Romanen dieser Zeit vor allem der 1964 erschienene Roman „The Interpreters“ (dt. „Die Ausleger“, Onlinekatalog) von Wole Soyinka, der 1986 als erster Schwarzer und erster Afrikaner den Literaturnobelpreis erhielt. „The Interpreters“ handelt tatsächlich von einer Clique von ‚Interpreten‘, die versuchen, in einem neuen Land, dem unabhängigen Nigeria, ihren je eigenen Weg zwischen Tradition und Moderne zu finden. Der Text ist sehr dicht und sehr atmosphärisch, nicht linear erzählt, sondern wabernd und chaotisch – womit die politische und gesellschaftliche Situation dieser Zeit sprachlich beeindruckend umgesetzt ist.

Ebenfalls aus den Digital Collections der NYPL: eine Karte Nigerias aus dem Jahr 1911.

Biafra

Die drei größten Bevölkerungsgruppen in Nigeria sind die muslimischen Hausa und Fulani, die vorwiegend im Norden leben, die Igbo (christianisiert) im Südosten und die Yoruba (christianisiert) im Südwesten. Seit der Unabhängigkeit herrscht immer wieder Streit um die politische Vorherrschaft, ein Putsch folgt quasi dem nächsten. Im Zuge dessen kommt es 1966 zu Pogromen an Igbo, die im Hausa-dominierten Norden leben. Eine millionenfache Flucht Richtung Südosten beginnt. 1967 erklärt der Militärgouverneur der Ostregion diesen Landesteil für unabhängig: Die Republik Biafra ist geboren. Da sich riesige Ölvorkommen auf diesem Gebiet, im Niger-Delta, befinden, schaut der Staat nicht lange zu: Bereits im Juli 1967 greift das nigerianische Militär Biafra an. Der Bürgerkrieg dauert 30 brutale Monate, Biafra wird ausgehungert, die Massaker an Igbo sind zahlreich, ein bis zwei Millionen Menschen kommen ums Leben. Der Autor Wole Soyinka verbringt diese Jahre im Gefängnis, da er heimlich Friedensverhandlungen mit den verschiedenen Parteien zu führen versuchte.

Biafra ist eines der größten Themen der nigerianischen Literatur, über 100 Romane und Erzählungen gibt es darüber. Selbstredend haben die beiden großen Herren der nigerianischen Literatur, Chinua Achebe und Wole Soyinka über Biafra geschrieben (Achebe sogar erst jüngst wieder: „There Was A Country“, 2012), und auch von Buchi Emecheta gibt es einen Biafra-Roman („Destination Biafra“, 1981), aber ich möchte hier zwei andere Namen empfehlen, nämlich Ken Saro-Wiwa und Chimanda Ngozi Adichie.

Saro-Wiwas Debütroman „Sozaboy“ (1985, Onlinekatalog) bezeichnet sich selbst als „A Novel in rotten Englisch“, also als Roman in verfaultem Englisch. Ich-Erzähler Mene, nicht gerade das hellste Köpfchen, erhofft sich von einer Karriere als Soldat Ruhm und Ansehen. Er gerät zwischen die Fronten des Biafra-Krieges, dient mal der einen, mal der anderen Seite und staunt mit großen Augen über die Unansehnlichkeit der ganzen Unternehmung. Nichts daran ist männlich, schön oder ehrenhaft.

Das Großartige an diesem Roman ist natürlich seine Sprache, dieser regelrechte Raubbau Ken Saro-Wiwas an der Kolonialsprache Englisch. „Diese Sprache ist unordentlich und verbreitet selbst Unordnung“, erklärt der Autor im Vorwort. Saro-Wiwa stand der Republik Biafra gleichsam von Anfang an kritisch gegenüber, da er zur Minderheit der Ogoni gehörte und eine wachsende Vorherrschaft der Igbo befürchtete. Seinen Einsatz für die Rechte der Ogoni bezahlte er mit dem Leben: Zu Zeiten der Diktatur von Sani Abacha wurde er zum Tode verurteilt und trotz Protesten der Weltöffentlichkeit 1995 mit acht Mitstreitern gehängt („Ogoni Nine“). Wole Soyinka war ein Jahr zuvor aus Nigeria geflohen.

Der zweite wichtige Biafra-Roman ist „Half Of A Yellow Sun“ („Die Hälfte der Sonne“) von Chimanda Ngozi Achidie (Onlinekatalog), der 2006 erschien (die aufgehende/halbe Sonne ist das Symbol der Republik Biafra). Die Autorin erzählt darin von den zwei Schwestern Olanna und Kainene, die einander kaum unähnlicher sein könnten. Olanna lebt das Leben des intellektuellen Mittelstands, Kainene leitet die Geschäfte des Familienunternehmens: Ethik versus Realitätssinn – und dann bricht der Biafrakrieg aus, der jede der Schwestern vor ganz eigene Herausforderungen stellt. Mit den Schlagwörtern „Liebe und Verrat, Rassismus und Loyalität“ kündigte der deutsche Verlag das Buch an, und das ist so falsch nicht: „Die Hälfte der Sonne“ ist ein echter Schmöker, dramatisch und bewegend.

Gegenwart

Nigerianische Autorinnen und Autoren gehören mittlerweile fast selbstverständlich zur internationalen Literaturlandschaft. Jedoch meist nur dann, wenn sie im Ausland – üblicherweise in den USA und in Großbritannien – ausgebildet wurden. Dementsprechend sind deren Themen meist die hybride Identität, die von der Autorin Tayie Selasi in den Begriff „Afropolitan“ gefasst wurde: Sie fühlen sich sowohl als NigerianerIn als auch als AmerikanerIn, leben beständig zwischen vielen verschiedenen Welten, Religionen, Milieus, Hautfarben. Laut stellen sie die Frage nach der Repräsentation, also die Frage nach schwarzen Identifikationsfiguren in Literatur und Kultur anstelle der üblichen klischierten Abziehbildchen.

Einen der wichtigsten Romane zu diesem Thema hat erneut Chimamanda Ngozi Adichie geschrieben: „Americanah“ (Onlinekatalog) halte ich ebenfalls für ein absolutes Standardwerk, das jeder gelesen haben sollte. Die Handlung beginnt im Nigeria der 1990er Jahre mit dem Liebespaar Ifemelu und Obinze. Beide verlassen Nigeria, allerdings in verschiedene Richtungen. Ifemelu beginnt in den USA zu studieren. Nach und nach begreift sie die Funktionsweisen des Rassismus; sie gründet ein Blog, in dem sie sich damit auseinandersetzt.

Neben Adichie gibt es noch zahlreiche andere nigerianische Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die ich unbedingt erwähnenswert finde. Da wäre zum Beispiel Helon Habila und sein Roman „Öl auf Wasser“ (Onlinekatalog), der nach Soyinka und Saro-Wiwa ein weiteres Mal das Niger-Delta als Literaturlandschaft entdeckt. Da wäre auch der intellektuelle Essayist Teju Cole, der in seinem Roman „Open City“ (Onlinekatalog) den nigerianischen Immigranten Julius als Flaneur durch New York schickt. Da wäre Helen Oyeyemi (Onlinekatalog), die in einem bemerkenswerten Tempo zauberhaft flirrende Romane schreibt, die zugleich märchenhaft und dennoch politisch hochaktuell sind. Eine Art magischer Realist ist auch Ben Okri, dessen Roman „The Famished Road“ (Onlinekatalog) ich verschlungen habe: die Geschichte des Geisterkinds Azaro, der einerseits das alltägliche Leben in sozial schwierigen Verhältnissen zu meistern hat, sich andererseits immer wieder gegen die Geister zu Wehr setzen muss, die ihn ins Totenreich zurückholen wollen. Ein weiterer wichtiger Autor ist auch Chigozie Obioma, dessen Roman „The Fishermen“ (dt. „Der dunkle Fluss“, Onlinekatalog) ich allerdings noch nicht gelesen habe – aber zum Glück hat meine Kollegin Claudia das Buch hier im Blog besprochen.

Unbedingt zugreifen solltet ihr auch, wenn ihr auf Bücher von Sefi Atta (Onlinekatalog) und Noo Saro-Wiwa (Onlinekatalog) stoßt. Atta ist gleichsam die britische Variante von Adichie: Sie erzählt ebenfalls immer wieder vom Leben zwischen vielen Welten, trägt aber nicht ganz so dick und herzschmerzend auf wie Adichie. Und Noo Saro-Wiwa – genau: die Tochter von Ken Saro-Wiwa – hat 2012 den wunderschönen Essayband „Looking for Transwonderland: Travels in Nigeria“ veröffentlicht, den ich mit Freude und Staunen gelesen habe: eine Reise von Lagos über Ibadan nach Norden und zurück in ihre Kindheitsstadt Port Harcourt und ins Nigerdelta. Hin- und hergerissen zwischen der nigerianischen Lebensart und ihrer britischen Sozialisation, zwischen Heimatgefühlen und dem touristischen Blick unternimmt sie einen Streifzug durch die Kulturgeschichte von Nigeria.

Und nun: Viel Spaß beim Hineinlesen in dieses Transwonderland!

PS.: Wer sich in die soziale wie politische Geschichte Nigerias einlesen möchte, dem kann man die verschiedenen Wikipedia-Seiten zum Thema guten Gewissens empfehlen.

Mit diesem Blogartikel möchten wir zum zweiten Mal – nach „Buchweltreise durch Afrika“ – zur #Buchweltreise-Blogparade beitragen. Konkreter Anlass sind die Afrikanischen Filmtage, deren Mitveranstalter die Münchner Stadtbibliothek ist und die in dieser Woche im Carl-Amery-Saal im Gasteig stattfinden.

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