Lesezeichen: Was BibliothekarInnen lesen … im April

Unsere Bibliothekarinnen und Bibliothekare sind den ganzen Tag von Literatur umringt und werden täglich nach Buchtipps gefragt (und geben diese natürlich auch immer sehr gerne!). Aber was liegt eigentlich bei ihnen selbst auf dem Nachttisch? Wir haben da mal nachgefragt … Lasst euch inspirieren! Ein Klick aufs Cover führt euch in unseren Onlinekatalog zum Ausleihen oder Vormerken.


Mary Beard: Women & Power – A Manifesto

Diese beiden Vorträge der Althistorikerin Mary Beard haben es in sich! Beard macht sich Gedanken über die Sicht- und Hörbarkeit von Frauen im öffentlichen Leben. Warum schlägt Frauen, die sich öffentlich politisch äußern, in den (sozialen) Medien so viel Hass entgegen? Warum wird das Handeln von Politikerinnen so viel kritischer beobachtet als das ihrer männlichen Kollegen? Für mich ein Augenöffner: Wenn Frauen in Machtstrukturen nicht oder verzerrt wahr genommen werden, müssen wir dann nicht weibliche Macht anders definieren als männliche Macht? Waltraud, Stadtbibliothek Am Gasteig
Profile Books, 115 Seiten

Aktueller Lesetipp über das Verstummen-Machen von Frauen: „Who does she think she is?“ von Laurie Penny (englischsprachiger Essay auf Longreads)


Helmuth Lethen: Die Staatsräte

Ein Lehrstück über Kollaboration und Widerstand. Preußische Staatsräte wurden ab 1933 von Hermann Göring persönlich ernannt und hatten eine ausschließlich beratende Funktion. Lethen nimmt nun vier dieser Staatsräte (Wilhelm Furtwängler, Gustaf Gründgens, Ferdinand Sauerbruch und Carl Schmitt) und verwickelt sie in fiktive Gespräche, obwohl sich diese vier Männer kaum oder nur flüchtig kannten und in dieser Besetzung auch nie zusammen gekommen sind. Und es gelingt ihm gerade durch diesen Kunstgriff, den Personen und ihren politischen Einstellungen nahe zu kommen. Eine faszinierende Lektüre! Waltraud, Stadtbibliothek Am Gasteig
Rowohlt Berlin, 350 Seiten


Rainer Wekwerth und Thariot: Pheromon

Pheromon ist eine Geschichte, die aus zwei Zeiten erzählt wird. Da ist zum einen Jake, der im Jahr 2018 lebt. Er ist ein gewöhnlicher, durchschnittlicher Jugendlicher mit Heuschnupfen und Sehschwäche. Doch eines Tages braucht er auf einmal keine Brille mehr und kann nicht nur viel besser, sondern auch die Gefühle der Menschen riechen.

Zum anderen wird die Geschichte von Travis erzählt. Er lebt im Jahr 2118 und ist mit Ende 60 ehrenamtlich als Arzt tätig. Er musste schon so einiges durchmachen. Scheidung, Alkoholismus und Gefängnis… Als er eines Tages beim Untersuchen einer Patientin auf nichtmenschliche Werte stößt, wird ihm klar, dass die Menschheit in großer Gefahr schwebt. Wie alles zusammenhängt erfährt der Leser, als die beiden einer geheimen Organisation auf die Spur kommen.

Mich hat die Geschichte von Anfang an gefesselt, da sie super spannend geschrieben ist. Ich konnte das Buch kaum aus der Hand legen. „Pheromon“ ist etwas für alle Fans von Dystopien und Science Fiction. Sarah, Stadtbibliothek Pasing

Verlag Planet!, 416 Seiten


Alan Paton: Cry, The Belove Country

Das Buch war auf der Literaturliste der Reiseagentur, die vor kurzem meine Südafrikareise organisierte. Bei Wikipedia und Amazon machte ich mich schlau, dass es sich hier um eine Novelle handelt, die 1948 erstmals veröffentlicht wurde und in den 50ern zur Weltliteratur zählte. Das machte mich neugierig.

Das Buch spielt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Südafrika. Es handelt von einem schwarzen Pfarrer vom Land, der nach Johannisburg reist, um dort nach seinem verschollenen Sohn und seiner jüngeren Schwester zu suchen. Er findet beide, jedoch unter sehr unglücklichen Umständen…

Es ist eine mich sehr berührende Geschichte um die Anfänge der Rassentrennung, die Verelendung der Landbevölkerung durch die Arbeit in den Minen, der daraus entstehenden Gewalt zwischen Schwarzen und Weißen und der Zerstörung der traditionellen Gesellschaft. Eine gesellschaftliche Entwicklung, deren Nachwirkungen man in Südafrika immer noch erspüren und erfahren kann. Eva, Stadtbibliothek Am Gasteig


Max Scharnigg: Der restliche Sommer

Das beste Rezept beim Warten auf den Sommer: den Sommer erlesen!

Während die letzten Tage des Sommers zäh wie Honig vom Löffel tropfen trudeln die ProtagonistInnen in Max Scharniggs neuem Roman zwischen Beziehungswirren, Pussypower und Terror-Angst durch ihren jeweiligen Alltag. „Eigentlich sollten sie Warnhinweise auf junge Gesichter kleben: Achtung, könnte Spuren ihrer eigenen Geschichte enthalten.“ In seiner unverwechselbaren Sprache spinnt Max Scharnigg ein Netz aus Selbstsuche, Existenzskrisen und Unbehagen, das man nicht mehr aus der Hand respektive dem Kopf bekommt. Lisa, Monacensia im Hildebrandhaus
Hoffmann und Campe, 240 Seiten

Am 13. September kommt Max Scharnigg mit dem Roman in die Monacensia zu „MON liest“.


Didier Eribon: Rückkehr nach Reims

Eribon, geboren 1953 in Reims, lehrt Soziologie an der Universität von Amiens und hat u.a. eine Biographie über Foucault veröffentlicht. „Rückkehr nach Reims“ ist ein autobiographisches Buch in dem er die Ereignisse seines Lebens mit soziologischen Reflexionen verknüpft. Gleich zu Anfang erfährt man, dass er jahrzehntelang die Verbindung zu seiner Familie abgebrochen hatte und erst wieder nach Reims fährt, als sein Vater gestorben ist.

Eribon stammt aus einer Arbeiterfamilie (Vater: Fabrikarbeiter, Mutter: Putzfrau). Als Jugendlicher ist er Marxist und glorifiziert das Proletariat. Später, als er sich in Paris zu einem wichtigen Intellektuellen entwickelt, holt ihn die Scham über seine Herkunft immer wieder ein. Er verfügt nicht wie andere Intellektuelle automatisch über Geld, Bildung, Habitus, Codes und Beziehungen, sondern muss sich das alles erst mühsam aneignen. Wie strikt die gesellschaftlichen Schichten voneinander abgegrenzt sind, wird sehr gut klar. Dazu kommt die Ausgrenzung wegen seiner Homosexualität.

Beim Lesen bekomme ich auch eine Ahnung davon, wieso eine ehemals linke Arbeiterschaft nun Front National wählt. Nicht ganz leicht zu lesen, bringt einen aber auf neue, interessante Gedanken. Annette, Stadtbibliothek Maxvorstadt
Suhrkamp Verlag, 240 Seiten

In der Schaubühne/Berlin wird „Rückkehr nach Reims“ gerade als Bühnenfassung unter der Regie von Thomas Ostermeier gezeigt.


Iori Fujiwara: Der Sonnenschirm des Terroristen

Auf meinem Nachttisch liegt gerade „Der Sonnenschirm des Terroristen“ von Iori Fujiwara. Gefunden habe ich den Titel auf der Krimi-Bestenliste des Deutschlandfunk Kultur. Obwohl streckenweise brutal, ist der Roman von einer leisen Melancholie durchzogen. Interessant sind die historischen Bezüge zu den japanischen Studentenunruhen der 1960er Jahre. Faszinierend die Geschichte um seine Entstehung in den 1990er Jahren: Der Autor musste einen Bestseller schreiben, um seine Spielschulden bei der Yakuza begleichen zu können. Es ist ihm gelungen. Anke, Stadtbibliothek Am Gasteig

Cass Verlag, 350 Seiten


Guadalupe Nettel: Nach dem Winter

Die Mexikanerin Cecilia mag Friedhöfe, verzweifelt am kalten Winter in Paris und lernt einen todkranken Mann lieben. Der Kubaner Claudio zelebriert seinen pedantischen Alltag, verachtet seine im Alter vorangeschrittene New Yorker Geliebte und verliebt sich Hals über Kopf in Cecilia…

Ich bin sehr gespannt (und würde es mir wünschen!), ob Cecilia den Avancen des arroganten Kubaners widersteht. Besonders gut gefällt mir der klare Schreibstil der Autorin, der die Charaktere des Buches so gut trifft. Susanne, Stadtbibliothek Hasenbergl

Blessing, 352 Seiten


Kasie West: Vergiss mein nicht

Addie lebt im Sektor, in dem unbemerkt vom Rest der Welt nur Menschen mit besonderen Fähigkeiten leben. Addies Fähigkeit: steht sie vor einer Entscheidung, kann sie die verschiedenen Varianten „ausloten“ und sozusagen in die Zukunft sehen. Als ihre Eltern von der bevorstehenden Scheidung erzählen und des damit einhergehenden Umzugs des Vaters außerhalb des Sektors, muss Addie sich entscheiden, bei wem sie von nun an leben will… Den Grundgedanken des Buches finde ich sehr interessant: was, wenn man die verschiedenen Alternativen vorab sehen könnte und darauf basierend entscheiden kann? Kasie Wests Buch ist leicht fantastisch angelegt, dieser Aspekt bildet aber nicht die Hauptstory. Wie in einem Jugendroman zu erwarten, werden Themen wie Liebe, Schule, Freundschaft und Familie behandelt. Gut geschrieben und zum Nachdenken anregend… Diana, Stadtbibliothek Bogenhausen

Arena Verlag, 340 Seiten


Grundsätzlich lese ich, seit ich denken kann, mehrere Bücher parallel. Unter anderem liegen gerade die folgenden beiden in meinem Lesestapel relativ weit oben:

Laura Spinney: 1918 – Die Welt im Fieber. Wie die Spanische Grippe die Gesellschaft veränderte

1918 bricht die Spanische Grippe aus und fordert bis März 1920 geschätzte – und unglaubliche – 50 bis100 Millionen Opfer. Wie kann es sein, dass die Tragweite dieser Pandemie heute kaum noch jemandem bekannt ist? Laura Spinney beschreibt sachlich und dennoch gut zu lesen, wie sich die Spanische Grippe über den Erdball ausgebreitet hat und welche Folgen sie wirtschaftlich, politisch und sozial hatte. Ein spannendes Sachbuch über eine erschütternde Zeit. Hanser Verlag, 384 Seiten

Volker Weidermann: Träumer. Als die Dichter die Macht übernahmen

Volker Weidermann leitet nicht nur das Literarische Quartett, sondern er schreibt auch tolle Bücher. Das jüngste, „Träumer“, schildert, wie verschiedene politische Gruppen in München versucht haben, das Machtvakuum nach dem Ersten Weltkrieg und der Absetzung des Königs zu füllen. Beim Lesen kann man nur über die Zustände damals staunen. Im Herbst wird das Thema „100 Jahre Revolution“ noch häufig Thema sein und zum Einlesen eignet sich dieses Buch – gerade für alle MünchnerInnen – ganz hervorragend. Kiepenheuer & Witsch, 288 Seiten

Birgit, Stadtbibliothek Neuhausen


Gabriel García Márquez: Hundert Jahre Einsamkeit

Nachdem ich an „Der Herbst des Patriarchen“ kläglich gescheitert war (fast das gesamte letzte Kapitel bestand aus einem einzigen Satz!), versuche ich es jetzt doch nochmal mit Gabriel García Márquez, in der Hoffnung, dass „Hundert Jahre Einsamkeit“ etwas leichter zu lesen ist.

Erzählt wird die Geschichte des Dorfes Macondo und einer ihrer Gründerfamilien, der Buendías, über mehrere Generationen. Der erste Teil zieht sich allerdings ziemlich, erst nach hundert Seiten Langeweile wird es zum Glück etwas interessanter. Ganz allmählich zeichnet sich ab, worauf der Autor hinauswill. Generation für Generation begehen die Buendías nämlich immer wieder die gleichen Fehler und Irrtümer und verschwenden ihr Leben auf ähnliche Weise. Das zeigt sich auch an der wenig phantasievollen Namensgebung – alle weiblichen und alle männlichen Nachkommen tragen, jeweils in Variationen, dieselben Vornamen. Das macht die Lektüre zugegeben etwas anstrengend, und ich habe mir jetzt einen Stammbaum gezeichnet, um bei den vielen Aurelianos und José Arcadios nicht durcheinander zu kommen. Das Ganze spielt vor dem Hintergrund des nicht weniger verwirrenden Bürgerkriegs in Kolumbien.

Die Ausschweifungen der diversen Buendías lockern die Handlung etwas auf, auch wenn die Lebensläufe und der Umgang der Familienmitglieder miteinander eher deprimierend und zerstörerisch sind. Die Familie lebt zusammen in einem Haus, das im Laufe der Handlung immer mehr verfällt, dennoch bleibt jeder für sich, einsam und auf seine eigene Art verzweifelt. Nach hundert Jahren ist das Elend endgültig vorbei, die Familie zerstört und das Buch auch fast zu Ende. Beinahe schade, ich hatte gerade begonnen, mich an die Buendías zu gewöhnen. Aber hundert Jahre Einsamkeit sind dann irgendwie auch genug. Aurica, Stadtbibliothek Neuaubing

Kiepenheuer & Witsch, 516 Seiten


Elizabeth H. Winthrop: Mercy Seat

Ein Mercy Seat, das ist – an Zynismus kaum zu überbieten – ein Elektrischer Stuhl. Er wird auf einem Lastwagen über Land zu dem Gefängnis gekarrt, wo der Delinquent schon wartet – zumindest war das in den Vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts im Süden der USA so.

Der zum Tode Verurteilte ist Will, ein junger Schwarzer, der ein weißes Mädchen vergewaltigt haben soll. Fast unnötig zu sagen, dass er keine Chance auf einen fairen Prozess hatte – die Zeiten, in dem ein weißer Mob in so einem Fall ohnehin kurzen Prozess gemacht hat, sind noch nicht lang vorbei …

Winthrop erzählt multiperspektivisch: Wir erleben Wills vermutlich letzten Tag unter anderem aus der Sicht seines verzweifelten Vaters, aus der des Staatsanwalts, der von der aufgeheizten Öffentlichkeit in einen unerträglichen Gewissenskonfkikt getrieben wird, aus der einer eigentlich unbeteiligten Frau, die selber gerade ihren Sohn im Krieg verloren hat … und aus der von Will selber. Ich lese das Buch gerade in jeder freien Minute und kann mich kaum davon abhalten, auf den letzten Seiten zu schauen, ob es wirklich keine Rettung gibt …

Wie es auch ausgeht, Elizabeth Winthrops Buch ist ein leidenschaftliches und fast schmerzhaft intensiv zu lesendes Plädoyer gegen die Todesstrafe und gegen Rassismus – da kann es nur ein kleiner Trost sein, das die Vorgänge in ihrer ganzen Ungeheuerlichkeit s o heute nicht mehr vorstellbar sind … hofft man zumindest … Stefanie, Stadtbibliothek Laim
C.H. Beck, 251 Seiten

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