Freie Räume, neue Gemeinschaften
Die Bibliothek als real-digitale Schnittstelle

Auf den vergangenen Bibcamps konnte man ein ums andere Mal erleben, dass „Social Media“ zwar stets ein gefragtes Thema darstellte (die Sessions waren immer voll), das Darüberreden sich aber wiederholt als wenig ergiebig erwies. Ich weiß nicht genau, woran das liegt, und das soll hier auch gar nicht zur Debatte stehen. Spannend aber, dass auch andere offensichtlich eine Erfahrung gemacht haben, die ähnliche Konsequenzen zur Folge hat – zumindest wenn ich den „neustART“ der stARTconference richtig deute, der es also fortan nicht mehr ‚nur‘ um Social Media geht, sondern um „den nächsten Quantensprung“, nämlich das Zusammenwachsen der analogen und digitalen Räume. Um dieses Thema kreisten einerseits die stARTcamps, die Mitte November in verschiedenen Städten stattfanden, und von diesem Thema handeln soll andererseits ein eBook, das die Beiträge der stARTcamps sowie der Blogparade „Kultur an der real-digitalen Schnittstelle“ versammelt. Als öffentliche Bibliothek kann man dazu natürlich kaum den Mund halten. Daher im Folgenden drei Effekte der Digitalisierung in unserem Haus (wobei die Henne-Ei-Frage eigentlich offen bleiben sollte: Wer wollte schon beantworten, ob die Globalisierung eine Folge der Internets ist oder dessen Ursache?)

sendling_wohnzimmer_01Freiräume

Mit einer öffentlichen Ausschreibung begann Mitte des Jahres 2005 das bis dato größte europäische RFID-Projekt in der Bibliotheksbranche: die Umstellung der gesamten Münchner Stadtbibliothek auf Selbstverbuchung, sowohl beim Ausleihen als auch beim Zurückgeben. Was den Münchnerinnen und Münchnern überraschend schnell zur Gewohnheit wurde (kaum jemand erinnert sich mehr, wie es ohne war, obwohl das kaum zehn Jahre zurückliegt), hat intern einen Prozess in Gang gesetzt, der womöglich noch gar nicht abgeschlossen ist. Als Sinnbild dafür mag der Eingangsraum der Stadtbibliothek Am Gasteig dienen, der vorher von den Ausleih- bzw. Rückgabetheken dominiert wurde – und danach beinahe weitläufig erschien, sodass endlich die Zugänglichkeit der Bibliothek auch optisch zum Ausdruck kam.

Tatsächlich waren diese neuen Freiräume nicht nur architektonischer Natur, sondern änderten auch Arbeitsabläufe, Strukturen und vor allem das Rollen- und Selbstverständnis der Bibliothekarinnen und Bibliothekare, die nun nicht mehr ganz so einfach und nebenbei mit jedem einzelnen Nutzer und jeder einzelnen Nutzerin ins Gespräch kamen, um auch auf diese Weise ein Gefühl für ihr Publikum zu bekommen. Vermehrte Veranstaltungsarbeit ist für uns eine Form der Reaktion auf das Bedürfnis nach Austausch und Kommunikation, an dem die Digitalisierung ja nichts geändert hat, im Gegenteil.

Auch hinsichtlich unserer Kundinnen und Kunden darf man den Begriff des Freiraums metaphorisch verstehen: Kaum etwas wurde so oft als positive Folge der Einführung der Selbstverbuchung erwähnt wie die Verbesserung der Privatsphäre. Scheidungsratgeber, erotische Prosa und andere Bücher, die das Privatleben betreffen, leiht man eben lieber anonym als bei einer weitgehend unbekannten Person.

 

MSBKopräsenz

Der neuen Weitläufigkeit auf der Eingangsebene der Stadtbibliothek Am Gasteig muss man weitere neue Freiräume an die Seite stellen. Denn die Digitalisierung hat in Bibliotheken auch Rearrangements einzelner Genres zur Folge. Die endgültigen Verschiebungen sind noch nicht auszumachen (Filme z.B. laufen bei uns weiterhin gut trotz Netflix, und die Onleihe hat den Bedarf an gedruckter Unterhaltungsliteratur nicht signifikant geändert), doch einiges ist bereits erkennbar. Auch solche Umordnungen eröffnen neue Räume – die allerdings immer schon verplant sind, sobald sie frei werden: Statt Regalen findet man dort dann Arbeitsplätze. Die rasante Steigerung des Bedarfs an unkommerziellen und für alle zugänglichen Orten, die eine angenehme Aufenthaltsqualität bieten (Tisch, Stuhl, Kaffeautomat, entspannte Atmosphäre u.ä.), kann man aktuell wohl kaum unterschätzen. Immer mehr Menschen wollen nicht nur leihen und zurückbringen, sondern in der Bibliothek sein, um dort zu lesen, zu lernen, zu schreiben, und das geschieht nicht selten gemeinsam mit anderen. Da der Begriff des Coworking zuallererst ein Geschäftsmodell meint, würde ich das, was hier sichtbar wird, lieber als Bedürfnis nach oder Lust an Kopräsenz bezeichnen, da damit auch die politische Implikation (die bei Coworking höchstens über Umwege zu Buche schlägt) dieser Form der öffentlichen Gemeinschaft benannt wäre.

 

Teilhabe

Alle digitalen Angebote der Münchner Stadtbibliothek haben eines gemeinsam: Sie wollen mehr Teilhabe an Wissen, Bildung und Kultur ermöglichen. Das gilt für den PressReader, der rund 5.000 digitale und vor allem internationale Zeitschriften bereitstellt (die wir analog niemals beherbergen könnten, und schon gar nicht in dieser Aktualität). Das gilt für die Onleihe wie für Overdrive, unsere beiden eBook-Plattformen, die neben dem ‚normalen‘ Publikum vor allem besonders mobile Menschen sowie Menschen mit Mobilitäts- oder anderen Einschränkungen bedienen. Menschen, die keine Zeit oder keine Möglichkeit haben, eine Stadtbibliothek zu besuchen; Menschen, die mit gedruckten Büchern aufgrund z.B. einer Sehschwäche nicht zurechtkommen; Menschen, die aus Mangel an Deutschkenntnisse auf den (im Digitalen immer umfangreicheren) Bestand an fremdsprachigen Büchern angewiesen sind.

Und ob nun Ursache oder Wirkung: Digitalisierung ermöglicht nicht nur Teilhabe, sondern fördert auch den Wunsch danach, und zwar real wie digital. Drei Beispiele: das Blog der Münchner Stadtbibliothek, die Facebook-Serie „Und was liest Du?“ und die Suche nach einem neuen Namen für den Lesesaal in der Stadtbibliothek Am Gasteig.

  1. Das Blog der Münchner Stadtbibliothek

Das Blog der Münchner Stadtbibliothek ging im April 2016 online, quasi ohne Testphase. Es gab allerdings auch keinerlei Grund zur Sorge: Auf einen internen Aufruf hatten sich knapp 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gemeldet, die ihren Teil zum Gelingen des Blogs beitragen wollten; die meisten durch Texte, einige auch organisatorisch.

undwasliestduSelbstredend war das Blog vor allem als Medium der Öffentlichkeitsarbeit gedacht, weshalb ich zuvor kaum darüber nachgedacht hatte, was es intern bewegen wird. Und das war und ist eigentlich die viel großartigere Erfahrung: dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zusammen kamen, die bisher wenig miteinander zu tun hatten (die Münchner Stadtbibliothek hat über 500); dass sie miteinander ins Gespräch kamen über Bücher, Filme, Spiele; dass man manch verborgenes Talent entdecken durfte, bei sich wie bei anderen; dass Hierarchien in den Hintergrund traten; dass man mit Stolz auf die eigenen Kenntnisse bei der Sache war und ist.

  1. Und was liest Du?

Im Herbst 2016 starteten wir auf Facebook die Serie „Und was liest Du?“, deren Titel bereits alles besagt: Alle zwei Wochen fragen wir nach der Lektüre unserer Fans. Und während wir anfangs noch als erste Tänzer auf der Tanzfläche das Eis brechen mussten, entwickelt sich die Sache langsam zum Selbstläufer. Jedes Mal kommentieren mehr Menschen unter dem Posting und lassen uns und die anderen Fans teilhaben an ihrem literarischen Geschmack, der beileibe nicht so oberflächlich ist, wie viele jetzt vielleicht denken.

  1. Ein neuer Name für den Lesesaal

gasteig_pinnwandDie Suche nach einem neuen Namen für den Lesesaal in der Stadtbibliothek Am Gasteig war zunächst eine Idee fürs Reale. Vor Ort steht eine Pinnwand und fordert ein Plakat unsere Nutzerinnen und Nutzer zu eigenen Vorschlägen für diese Räumlichkeit auf. Meine Kollegin Andrea gab den Anstoß, die Aktion auch in die Social Communities zu bringen (worauf ich eigentlich selbst hätte kommen sollen *andiestirnpatsch*). Auf Facebook veröffentlichten wir ein Foto der leeren Pinnwand mit der Bitte um Ideen. Auch hier dauerte es nicht lange, bis die ersten Vorschläge via Kommentar eintrudelten. Und bald kam – daran hatte ich gar nicht gedacht – die Frage nach der ‚analogen Konkurrenz‘ von einem Fan: „Gibt es denn schon Offline-Vorschläge für den Lesesaalnamen?“ Ich postete ein Foto der Pinnwand, auf der mittlerweile drei Zettel klebten, und sogleich wurden diese Vorschläge diskutiert. (Eine Verschärfung des Wettbewerbs zwischen Gasteig-Pinnwand und Facebook-Pinnwand ist nicht geplant, da ich die digitale gerade nicht gegen die analoge Gemeinschaft (und vice versa) ausspielen möchte.)

 

So formt sich, Schritt für Schritt und analog wie digital, die Bibliothek zur Community of Practice: zu einer Gemeinschaft, in der – so die Definition dieses Begriffs – Wissen konstruiert wird (siehe auch Wikipedia). In der, um es mit anderen Worten zu sagen, miteinander über Rolle und Funktion von Bildung, Wissen und Kultur gesprochen und entschieden wird. Nichts anderes tun Bibliotheken seit jeher, und dass nun auch deren Nutzerinnen und Nutzer daran verstärkt und uneingeschränkt teilhaben wollen (genau darin gründet, das nur am Rande, ja auch die Motivation von Barcamps), darf im 21. Jahrhundert wohl als bestes aller Zeichen für die Zukunft von Bibliotheken verstanden werden.

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