Im Gegenlicht

„Der Fall Meursault“ von Kamel Daoud (Roman)

Kann man einen Klassiker der Weltliteratur weiterschreiben? Um es gleich vorweg zu nehmen: Kamel Daoud ist es gelungen. 1942 erschien „L`Etranger“ von Albert Camus. 2014 veröffentlicht Kamel Daoud „Meursault, contre-enquête“, 2016 erscheint der Titel auf deutsch „Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung.“ Inzwischen ist der Roman in 28 Sprachen übersetzt.

camus_monumental

So monumental feiert man „Der Fremde“ in Frankreich: Cité des livres, Aix-en-Provence.

Um nachvollziehen zu können, worüber Daoud schreibt, habe ich den Roman von Camus nach dreißig Jahren noch einmal gelesen: wie der Protagonist seine Mutter beerdigt, kurz darauf ein Mädchen kennenlernt, wie er mit einem Freund an den Strand bei Algier geht und von dessen Streit mit Arabern erfährt. Und wie er dann in der Mittagshitze den einen Araber mit fünf Pistolenschüssen tötet. Nicht mehr erinnerlich war mir, dass der Gefängnisaufenthalt so viel Platz im Buch einnimmt. Zeit, in der Camus die Gleichgültigkeit von Meursault schildert, den merkwürdig kalten Abstand zu den Menschen und dem Geschehen. Man wird nicht warm als Leser mit dieser Hauptfigur, die am Ende weniger für den Mord, als vielmehr für ihre Gleichgültigkeit zum Tod verurteilt wird.

Kamel Daouds Roman spielt ebenfalls in Algerien, in einer Bar in Oran. Hier sitzt ein wütender Erzähler, der seine Sätze dem Leser entgegenzuschleudern scheint. Erst später wird klar, dass er ein Gegenüber hat: einen Franzosen, der mit Camus‘ Buch in der Hand in die Bar gekommen ist und genaueres über den Mord wissen will. Abend für Abend treffen sie sich.

Der Erzähler, Haroun, ist der kleine Bruder von Moussa, dem Araber, der 1942 erschossen wurde. Er war an diesem Tag sieben Jahre alt, inzwischen sind siebzig Jahre vergangen. Aber seine Wut ist noch so groß, dass es mir anfangs schwer fiel, den Roman weiter zu lesen.

Stell dir mal vor, es ist eines der meistgelesenen Bücher der Welt und mein Bruder hätte berühmt werden können, wenn dein Autor sich nur dazu herabgelassen hätte, ihm einen Vornamen zuzuschreiben…

Titelbild_DaoudDer Roman läuft nicht stringent auf ein Ziel zu, sondern entwickelt sich wie in Spiralen des immer Gleichen weiter. Die Anklage gilt den Franzosen, den ehemaligen Kolonialherren, dem Schriftsteller Albert Camus, dem Gesprächspartner in der Bar und dem Leser. In die Wut des Erzählers mischt sich bald auch Trauer um den verlorenen Bruder und das eigene Leben, das ohne diesen Mord anders verlaufen wäre.

Haroun schildert seine Kindheit, alleine mit einer Mutter, die ihre Zeit darauf verwendet, den Leichnam ihres Sohns zu finden und Zeugen zu suchen, die das Geschehen für sie nachvollziehbar machen. Moussas Leiche wird nie gefunden, was seine Mutter immer mehr in die Verzweiflung treibt. Sie zieht mit ihrem kleinen Sohn schließlich von Algier weg in das Dorf Hadjout, in die Nähe von Oran. Hier wächst er im Schatten des älteren, ermordeten Bruders und in großer Armut auf. Erst als die Kolonialherren vertrieben werden und sich seine Mutter eines ihrer Häuser sichern kann, wird ihr Leben etwas leichter. Im Juli 1962 erschießt Haroun einen Franzosen, der nachts im Mondlicht in ihrem Hof auftaucht. Erst später wird klar, dass seine Mutter genau diesen Franzosen ausgesucht hat, damit ihr Sohn Rache nimmt. Der Franzose hat einen Namen, Joseph Larquais, aber auch sein Leichnam bleibt unauffindbar. Haroun kommt ins Gefängnis, wird später aber ohne Gerichtsverhandlung wieder frei gelassen. Nach und nach werden sich die Gedanken von Camus‘ Meursault und Daouds Haroun immer ähnlicher. Beide sind Atheisten und lehnen die Religion ihres Landes ab. Wie Meursault ist Haroun unverheiratet. Zudem hat er nicht im Befreiungskrieg gekämpft. Damit sind beide Außenseiter in ihrem gesellschaftlichen Umfeld.

Beide Bücher sind nicht einfach zu lesen und erfordern Geduld. Aber letztlich erfährt man eine Menge über die algerische und französische Geschichte, und das ganz unmittelbar. Kamal Daoud hat für sein Buch den „Prix Goncourt du premier roman“ erhalten. Von den Islamisten ist er für die Passagen, die sich kritisch mit dem Islam und seiner Intoleranz auseinandersetzen, stark angegriffen worden. Und hier kommt der Autor selbst zu Wort.

Kamel Daoud: Der Fall Meursault. Aus dem Französischen von Claus Josten, 200 Seiten, Kiepenheuer & Witsch

„Der Fall Meursault“ von Kamel Daoud im Onlinekatalog der Münchner Stadtbibliothek

Am 29. September feiert eine Bühnenfassung des Romans in den Münchner Kammerspielen Premiere. Mehr Info …

Merken

Merken

Merken

Merken

Merken

Merken

Merken

Merken

Merken

Merken

Merken

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Beitragsnavigation: