Fließender Grenzverkehr

#einwortgibt lautet das Motto der Blogparade des diesjährigen Münchner Literaturfests (Was ist eine Blogparade?). Der Aufruf nennt gleich ein Bündel an möglichen Themen – wo also anfangen, wenn hier weder eine Social-Media-Strategie noch der Wert der Literatur als solcher zum Gegenstand gemacht werden soll? Am besten mit einer Szene aus dem so genannten echten Leben, denn eine öffentliche Bibliothek besteht nunmal nicht aus analogen oder digitalen Buchstaben, sondern zuallererst aus Menschen.

Erst vor ein paar Tagen sah ich einen Vater mit seiner Tochter auf dem Weg in die Stadtbibliothek Am Gasteig: Sie war so voller Vorfreude, dass sie kaum im Zaum zu halten war; sie schlenkerte wild mit den Armen, warf mal das eine, mal das andere Bein unbändig nach vorn, quasselte laut und aufgeregt. Kurz vor der Eingangstür ermahnte sie der Vater: „In der Bibliothek musst Du aber leise sein!“

Die Gesichter der beiden, als sie die Kinder- und Jugendbibliothek betraten und dort das übliche – eben ganz und gar nicht leise! – Getümmel von Eltern und Kindern erkannten, habe ich leider nicht mehr gesehen. Vielleicht hat sie ihn fragend angeguckt: Wieso sollte ich hier denn bitte leise sein, wenn alle anderen das auch nicht sind? Oder sie hat seine Reaktion gar nicht erst abgewartet und ist gleich losgestürmt, mitten rein in die fröhliche Menge.

Das Klischee von der Pssst!-Bibliothek ist tatsächlich noch immer ziemlich weit verbreitet. Für wissenschaftliche Bibliotheken stimmt das wohl auch weiterhin, denn dort wird still gelesen, still gelernt, still geschrieben. Öffentliche Bibliotheken hingegen wandeln sich mehr und mehr zum Begegnungsort, an dem die Kommunikation nicht mehr nur in stummen Gedanken zwischen Leser_in und Autor_in stattfindet, sondern immer öfter auch zwischen Leser_in und Leser_in. Ein Wort gibt das andere, und zwar nicht nur das geschriebene, sondern vor allem auch das gesprochene, das selbstredend nicht immer geflüstert werden kann.

Unsere Nutzerinnen und Nutzer leihen sich in der Münchner Stadtbibliothek nämlich nicht nur Geschichten mehr oder weniger berühmter Autorinnen und Autoren – sie lassen im Gegenzug immer auch einen Teil der eigenen Geschichte bei uns: Wenn sie mit Bibliothekarinnen und Bibliothekaren ins Zwiegespräch über Literatur treten; wenn sie sich bei Veranstaltungen an der Diskussion über Bücher und Themen beteiligen; wenn sie die eigene Haltung zur Programmatik des Hauses kundtun oder wenn sie schlicht und einfach einen Sprachlernpartner suchen, mit dem sie endlich Leben ins Volkshochschulwissen bringen können.

Foto: Gasteig München GmbH / Andreas Merz

Ein Bild aus den Anfangszeiten des Sprachcafés in der Stadtbibliothek Am Gasteig. Foto: Gasteig München GmbH / Andreas Merz

Wenn es stimmt, dass die Grenzen unserer Sprache auch die Grenzen unserer Welt abstecken, dann muss es das Ziel jeder Bibliothek sein, die Schlagbäume konsequent offen und den Grenzverkehr im steten Fluss zu halten. In der Münchner Stadtbibliothek geht es jedenfalls genau darum: dass ein Wort das andere gibt, damit das Gespräch und der Austausch zwischen den Menschen in München niemals abreißen.

Eines der besten Beispiele dafür ist unser Sprachcafé. Zweimal pro Woche – am Dienstag in der Stadtbibliothek Am Gasteig, am Mittwoch in der Stadtbibliothek Sendling – kommen Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern zusammen, um über ein vorher bestimmtes Thema (man könnte auch sagen: über ein vorher bestimmtes Wort …) miteinander Deutsch zu sprechen, um die eigenen Sprachkenntnisse zu verbessern. Mal geht es um Familie, mal um Feiertage, mal um die Fauna des eigenen Vaterlands – sei das nun Polen, Kroatien, Indonesien, Nigeria oder Mexiko. Betrieben wird da also nichts weniger als die Interpretation eines Begriffs, die Auslegung eines Worts vor dem Hintergrund der eigenen Erziehung und Erfahrung. Diese buchstäbliche Über-Setzung eines Themas oder Worts in andere nationale oder soziale Kulissen schafft ein Bewusstsein für vermeintliche Selbstverständlichkeiten und eigene Voraussetzungen.

Es gibt wohl keinen zweiten derart internationalen Stammtisch in München, der schon so viele Augen und Ohren geöffnet und so viele Horizonte erweitert und das gegenseitige Verständnis so grundlegend vertieft hat. Und der ein ums andere Mal aufs Anschaulichste verdeutlicht, was uns alles entginge, würden wir immer nur Pssst! sagen und Integration als einseitige Anpassung der Neumünchnerinnen und -münchner an die hiesige Gesellschaft begreifen: jede Menge große Geschichten, neue Wörter, neue Welten.

 

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