Eiskalt erwischt

Isabelle Autissier: Herz auf Eis (Roman)

Der bloße Gedanke, hier ein Jahr zu leben, füllt die ganze Seele mit Grauen und Verzweiflung. (Johann Reinhold Forster, 1775 über Südgeorgien)

Ein Pärchen nimmt sich eine Auszeit vom Pariser Alltag.

Schließlich gibt es viele, die denselben Traum wie Louise und Ludovic verfolgen: der bedrückten und gehetzten Gesellschaft entfliehen, der Umweltbelastung in den großen Städten. Sich für das Meer und die Freiheit entscheiden, zurück zur Natur und zu wahrhaftigen Beziehungen finden.

Ludovic kann seinen Job bei einer Eventagentur nicht mehr ertragen. Er überredet seine Freundin Louise, sich eine Auszeit zu nehmen. Sie hat einen Bürojob beim Finanzamt, ist eigentlich ganz zufrieden. Die Woche verläuft unspektakulär, am Wochenende geht sie klettern. Um Ludovic nicht zu verlieren, stimmt sie einer Reise zu, und beide machen sich an die professionelle Planung. Vieles wird verworfen, abgeändert, neu geplant. Sie besuchen Touristik- und Bootsmessen. Bis sie endlich ihr Boot kaufen. Erste Station sind die Kanaren, weiter geht es über den Atlantik bis zu den Antillen. Schließlich schippern sie die südamerikanische Küste entlang. Sie sind beseelt, genießen Land und Leute, das Essen und die Natur. Sie verlieren ihr Handy und schwören sich gegenseitig, nie wieder eines zu kaufen. Sie schwelgen in Freiheit und in ihrer Liebe, alles scheint möglich und nichts scheint sie stoppen zu können. Das alles wird auf nur wenigen Seiten in Rückblenden und Erinnerungen des Pärchens geschildert.

Robben und Pinguine. Aber kein Boot.

Denn aktuell sitzen sie auf einer einsamen Insel namens Südgeorgien fest. Keine Robinson-Crusoe-Insel mit paradiesischen Stränden. Die Insel liegt im Südatlantik und beherbergt eine verlassene Walfangstation, die bis ins 20. Jahrhundert betrieben wurde. Es ist eine karge, eisige Landschaft mit verrosteten Maschinen, die von der ehemaligen Todesmaschinerie zeugen, und Gletschern, die in der Sonne funkeln. Robben und Pinguine runden die Kulisse ab. Nur in manchen Sommern wird ein Teil der Insel als Forschungsstation genutzt.

War der Besuch dieser verlassenen Insel als kurzer Zwischenstopp auf ihren Weg nach Südafrika geplant, entpuppt sich ihre grenzenlose Selbstüberschätzung als folgenschwerer Fehler. Nach einem heftigen Unwetter auf der Insel ist ihr Boot verschwunden. Ist die Verzweiflung zunächst unerträglich, versuchen sie nach und nach, einem geregelten Tagesablauf zu folgen und ihre Menschlichkeit zu bewahren. Nicht nur der existenzielle Kampf ums Überleben, sondern auch die Bewahrung psychischer Stärke kosten Kraft und Nerven.

Später werden sie erkennen, dass in diesem Aktionismus eine Art Verweigerung steckt. Zu diesem Zeitpunkt aber können sie Gedanken an ihre Verlassenheit nicht zulassen.

Wäre ich besser im Überleben?

Man wird getragen durch das Buch, taucht komplett ab und freut sich zugleich, nur Statist zu sein: Die Verzweiflung, die Reaktionen auf bestimmte Ereignisse und andere Handlungen sind oft nachvollziehbar, lassen einen aber dennoch tief durchatmen. Wäre ich besser? Einige Szenen brennen sich im Kopf ein. Was passiert, wenn gesellschaftliche Grundlagen wegfallen, was bleibt dann an Menschlichkeit und welche Mittel sind noch recht, will man überleben?

Doch vor ihren Augen wurde aus dem Wunschbild ein Albtraum. Er will verstehen, warum. War es ihr Fehler? Hatten sie es nicht verdient oder nie eine Chance, bei ihrer Herkunft? Hat die Überflussgesellschaft sie der lebensnotwendigen Reflexe beraubt?

Ein intensives, spannendes Leseerlebnis was zu heftigen Kopfkino (ver)führt! (Und das eigene Sabbatical ist erst einmal verschoben…)

PS-Tipp.: Wunderbare Fotografien von der klaren Schönheit der Insel Südgeorgien finden sich im Bildband „Antarktische Wildnis. Südgeorgien“ von Thies Matzen und Kicki Ericson. Im Onlinekatalog der Münchner Stadtbibliothek

Isabelle Autissier: Herz auf Eis. Aus dem Französischen von Kirsten Gleinig. 224 Seiten, Mare Verlag

 

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