Drinnen, draußen, nirgends frei

Emma Donoghue: Raum (Roman)

Was ist die wohl schlimmste Befürchtung aller Eltern? Neben einer unheilbaren Erkrankungen wohl die Entführung des eigenes Kindes und die Vorstellung der Qualen, die es dann wohl erleiden muss. Daher vermeide ich eigentlich jegliche Romane zu lesen oder Filme zu schauen, in denen dieses Thema behandelt wird – ich bin dafür einfach zu dünnhäutig. Aber „Raum“ hat mich fasziniert.

cover_donoghue_raumDer Roman ist unter anderem vom Fall Fritzl inspiriert worden. Josef Fritzl hat seine Tochter Elisabeth über Jahrzehnte in eine Kellerverlies eingesperrt, misshandelt , vergewaltigt und mit ihr weitere Kinder gezeugt, die zum Teil mit ihr eingesperrt blieben. Felix Fritzl ist eines dieser Kinder. Er ist mit seiner Mutter und weiteren Geschwistern völlig isoliert von der Außenwelt aufgewachsen und hatte erst nach der Befreiung Kontakt zur Außenwelt. Da war er etwa fünf Jahre alt. Wie nimmt ein Kind dass so aufwächst seine Umwelt wahr? Wie baut es Beziehungen auf? Welche Entwicklungsschritte laufen bei ihm anders? Diese und weitere Fragen müssen die irisch-kanadische Autorin Emma Donoghue sehr beschäftigt haben.

In ihrem Roman wächst der kleine Jack in so einem Gefägnis auf. In diesem Fall ist es eine Gartenlaube, zu der nur der Täter Zugang hat. „Raum“, wie dieser Ort fortan genannt wird, ist Jacks ganze Welt. Es gibt zwar einen Fernseher, aber Jacks Mutter, die schlicht „Ma“ genannt wird, erklärt ihrem Jungen, dass das, was er dort sieht, nicht real ist. Zu Beginn des Romans wundert man sich über Jacks Sprache, denn er lässt grundsätzlich jegliche Artikel weg. Sobald man sich aber in diese eigentümliche Sprechweise eingelesen hat, versteht man die Intension der Autorin. Da Jack nur seine Ma und die paar wenigen Gegenstände in Raum kennt, verleiht er den Dingen einen besonderen Wert, eine Decke hat dann nicht nur die Funktion ihn zu wärmen, sie ist sein Freund „Zudeck“.

Beim Lesen des Romans sind mir immer wieder Fetzen aus dem Buch „3096 Tage“ von Natscha Kampusch in Erinnerung gekommen. Sie hat darin etwa beschrieben, dass ihr ihre kindliche Anpasungsfähigkeit geholfen habe, sich mit der entsetzlichen Situation besser zu arrangieren. Auch der kleine Jack passt sich der Situation besser an als seine Ma, die immer wieder in Depressionen versinkt, sich ihrem Kind zuliebe aber zusammenreißt und Jack das Unerklärliche anhand von phantastischen Geschichten versucht verständlich zu machen. Die Situation von Mutter und Kind ist irgendwann nicht nur unzumutbar demütigend und unmenschlich, sondern durch die Verarmung des Täters und der daraus folgenden Sparmaßnahmen auch lebensbedrohlich. Als Ma das begreift, versucht sie ihren Sohn aufzuklären und mit ihm die Flucht zu planen.

In der gleichnamigen Apadtion des Films, für den die Schauspielerin Brie Larsson übrigens einen Oskar als beste Hauptdarstellerin gewonnen hat, wird das sogar noch deutlicher als im Buch. Anhand der Geschichte von Alice im Wunderland versucht Ma Jack zu erklären, was real ist und was nicht, und dass es eine Welt außerhalb von Raum gibt, aber das kann sich der kleine Jack überhaupt nicht vorstellen. In der Welt, die er aus dem Fernseher kennt, sind Bäume nunmal ebenso unecht wie die knallbunten Comics. Umso erstaunlicher ist es, mit welchem Mut und blindem Vertrauen er die Flucht durchzieht.

Mir hat besonders gut gefallen, dass weder Buch noch Film damit enden, dass den beiden die Flucht gelingt (außnahmsweise darf hier gespoilert werden). Vielmehr spielt über die Hälfte der Zeit in der Außenwelt, in der sich die beiden nur schwer zurecht finden. Im Buch etwa versteht Jack überhaupt nicht, was er auf einem Spielplatz machen soll. Er ekelt sich vor dem nasskalten, schmutzigen Sand und rutscht nur seiner Großmutter zuliebe ein paar Mal die kalte Rutsche runter. Im Film gibt es eine Szene, in der Jack aufgefordert wird, nach oben zu kommen, aber Treppen stellen für Jack, der sich immer nur ebenerdig bewegt hat, ein unüberwindbares Hindernis dar.

kampusch10jahre_coverSolche kleinen Einblicke werfen ein Licht auf die schier unüberbrückbare Distanz zur normalen Welt; permanent werden sie mit den Erwartungen und Ansprüchen ihrer Umwelt überfordert. Auch Jacks Mutter kommt mit den Menschen um sie herum nicht mehr klar, sie hat ein sehr schwieriges Verhältnis zu ihren Eltern, die Nerven liegen ständig blank. Besonders in der Filmszene, in der Ma von einer Reporterin gefragt wird, ob es denn nicht egoistisch von ihr gewesen sei, Jack bei sich in der Gefangenschaft aufwachsen zu lassen, statt den Täter zu bitten, ihn in einer Babyklappe oder ähnlichem abzugeben, spiegelt sich in ihrem Gesichtsausdruck die ganze Überforderung, Wut, Verzweiflung, Schuld und Trauer über das Elend.

Wer, um den Bogen wieder zu schlagen, in Natascha Kampuschs neuestes Buch „10 Jahre Freiheit“ hineingelesen hat, erkennt so manches wieder. Die ersehnte Freiheit hat sie auch zehn Jahre nach ihrer spektakulären Flucht 2006 nicht wirklich gefunden, „so richtig frei war ich in den vergangenen zehn Jahren nur in wenigen Momenten. Es war auch ein Gefängnis, in das ich zurückgekehrt bin. Ein Gefängnis der Urteile und Verurteilungen“, sagte sie etwa in einem Interview mit dem ORF.

Emma Donoghue: Raum. Aus dem Englischen von Armin Gontermann. 416 Seiten, Piper Verlag

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