Auslese: Syrien

Seit mittlerweile sechs Jahren herrscht in Syrien Bürgerkrieg. Doch die Schriftstellerinnen und Schriftsteller schweigen nicht, sondern schreiben weiter: über das Leben, Lieben und Überleben in einem Land, das von alldem nichts mehr wissen will. Elf Empfehlungen: aktuelle Romane und Erzählungen, Anthologien und avantgardistische Formen, eine historische Entdeckung und ein einführendes Sachbuch zum Thema.

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Salim Barakat: Das Spiel der jungen Hähne. Roman einer Jugend
C.H. Beck Verlag, 147 Seiten, aus dem Arabischen von Burgi Roos

Eine kurdische Kleinstadt in Mesopotamien, im Norden Syriens: Der Spielplatz der Kinder ist die Straße, die Spielregeln erfinden sie sich jeden Tag neu. Ob sie der Nachbarin zusehen, wie sie heimlichen Besuch vom Tabakhändler erhält, ob sie ihre Hähne zum Markt tragen oder im Kampf gegeneinander aufhetzen, ob sie ihre eigene Sexualität entdecken oder plötzlich wieder Kinderspiele auf der Straße spielen – alles ist ein einziges Abenteuer auf ihrem Weg ins Erwachsenendasein. Die „Geburt seines Herzens“, des Helden erste, unglückliche Verliebtheit, bildet den Höhepunkt und gleichzeitig den vorläufigen Abschluss dieses Abenteuers: seine Angebetete ist die Tochter eines Paschas – und damit vollkommen unerreichbar… (Text: Verlag)


Larissa Bender (Hg.): Innenansichten aus Syrien
Edition Faust, 200 Seiten

Aus einer friedlichen Protestbewegung hat sich in Syrien ein grausamer Krieg entwickelt. Schriftstellerinnen und Schriftsteller beschreiben in sehr persönlichen Beiträgen die eigenen psychischen und die gesellschaftlichen Veränderungen, die sie seit Beginn der Revolution beobachten. Zugleich dokumentiert der Band, wie mittels Literatur, Theater, Fotografie und bildender Kunst neue Freiheitsräume ausgelotet werden und wie der friedliche Protest abseits der Kriegsschauplätze weitergeführt wird.

Ein Reader mit Texten, Fotografien und Bildern von Sadik J. Al-Azm, Mohammad Al Attar, Mamdoh Azzam, Tammam Azzam, Fawwaz Haddad, Ziad Homsi, Omar Kaddour, Khaled Khalifa, Monzer Masri, Dima Wannous, Rosa Yassin Hassan, Samar Yazbek u.v.a. (Text: Verlag)


Hanna Diyāb: Von Aleppo nach Paris. Die Reise eines jungen Syrers bis an den Hof Ludwig XIV
Die andere Bibliothek, 489 Seiten, aus dem Französischen übersetzt von Gennaro Ghirardelli unter Hinzuziehung der arabischen Handschrift

Orient und Okzident begegnen sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Der französische Reisende Paul Lucas trifft 1707 in Aleppo auf den zwanzigjährigen Hanna Diyāb. Er wird von Lucas eingestellt und begleitet diesen auf der Heimreise nach Frankreich; ihre Route führt sie von Aleppo über Tripolis, Saida, Zypern, Ägypten, Libyen, Tunis nach Livorno, Genua und Marseille, von dort durch das Rhônetal nach Paris. Anschaulich und lebendig beschreibt Diyāb Begegnungen und Gespräche, Karawanenzüge und Angriffe von Korsaren, er nimmt Legenden und Heiligengeschichten in seinen Bericht auf. Die Beschreibung seines Aufenthalts am Hof und in der Stadt Paris gehört zu den Höhepunkten seines Reiseberichts. Dort trifft er auch auf den Orientalisten Antoine Galland, den Herausgeber und Übersetzer von „Tausendundeiner Nacht“, dem er, neben anderen, die Geschichten von Ali Baba und Aladdin erzählt, die dieser in seine berühmte Märchensammlung aufnehmen wird. Mit ihnen hat sich Hanna Diyāb bereits vor über dreihundert Jahren anonym in das europäische Kulturgedächtnis eingeschrieben. (Text: Verlag)


Fauwaz Haddad: Gottes blutiger Himmel
Aufbau Verlag, 352 Seiten, aus dem Arabischen von Günther Orth

„Wenn Gott auf der Seite von al-Qaida steht, bin ich bereit, mit dem Teufel zu paktieren“, sagt Haddads Erzähler und begibt sich auf der Suche nach seinem Sohn direkt in die Hölle: Mit Hilfe der Amerikaner und des syrischen Geheimdienstes lässt er sich in den Irak einschleusen, in dem drei Jahre nach dem Einmarsch der US-Truppen die Konflikte ihrem Höhepunkt entgegensieden. Täglich sind Dutzende von Toten, größtenteils Zivilisten, zu beklagen: Opfer von Vergeltungsschlägen rivalisierender Widerstands- und Konfessionsgruppen, Opfer von Entführungen marodierender Banden, aber auch Opfer christlicher Fanatiker innerhalb der Besatzungsarmee oder von Kopfgeldjägern, die ihre Suche nach dem al-Qaida-Führer az-Zarqawi als politische Razzien bemänteln. Im Schutze seiner eigenen Neutralität – als Atheist und ehemaliger Linksradikaler, der alle Ideologien hinter sich gelassen hat – wird Haddads Held wider Willen zum fassungslosen Zeugen all dessen, was passiert, wenn die Menschlichkeit vorgeschobenen Dogmen geopfert wird. Bis er den verzweifelten, selbstmörderischen Entschluss fasst, sich selbst entführen zu lassen, um endlich zu al-Qaida und damit zu seinem Sohn vorzudringen. (Text: Verlag)


Rosa Yassin Hassan: Wächter der Lüfte
Alawi Verlag, 333 Seiten, aus dem Arabischen von Stephan Milich und Christine Battermann.

Im Mittelpunkt des Romans steht Anat Ismail, eine junge Syrerin, die für die kanadische Botschaft in Interviews mit Flüchtlingen aus unterschiedlichsten Teilen des Nahen Ostens und Nordafrikas dolmetscht. Sie lernt Dschawad kennen, der, kaum dass die beiden ein Paar geworden sind, verhaftet wird und als politischer Gefangener mehr als fünfzehn Jahre im Gefängnis verbringt. Doch nach seiner Entlassung wird beiden bald klar, dass die Zeit der Trennung tief greifende Spuren und seelische Wunden hinterlassen hat. Fatalerweise gelingt es ihnen nicht, diese Veränderungen und die neu entstandenen Bedürfnisse zur Sprache zu bringen, um sie zu überwinden. Nachdem jeder neue Tag die Kluft zwischen dem Paar größer werden ließ, stellt Dschawad seine schwangere Frau eines Tages vor die Wahl: Entweder kommt sie mit ihm nach Europa und wird selbst zur Asylbewerberin – oder sie bleibt alleine zurück. (Text: Verlag)


Aboud Saeed: Lebensgroßer Newsticker
Spector Books, 156 Seiten

Zaubercreme, das Spuckspiel und die Ankunft von Skype: Der junge syrische Autor Aboud Saeed erzählt von seiner Kindheit im Norden Syriens, der Schulzeit unter dem Baath-Regime, vom Gastarbeiterdasein im Libanon, vom Anfang des Krieges, der Flucht in die Türkei und seiner Ankunft in Deutschland. Anekdoten aus dem Alltag wechseln sich mit „open texts“ (Aboud Saeed) ab, die an seine Facebook-Statusmeldungen, formal freie, direkt den Leser ansprechende, rhythmische Texte erinnern, eine experimentelle Mischung aus Prosa, Geschichte, Erzählung und „Delirium“, so nennt es der Autor. Die verrückten Gestalten, die ihm begegnen und ihn beeindrucken, sind die Hauptfiguren der Szenen. Die Texte berichten nicht auf direkte Art und Weise vom Krieg, sondern mit Hilfe der Konflikte innerhalb der eigenen vier Wände, auf der Straße, am Arbeitsplatz oder in der Schule. „Die kleinen Nebenkriege sind Echos der großen Kriege“, sagt Aboud Saeed. (Text: Verlag)


Rafik Schami: Sophia oder Der Anfang aller Geschichten
Hanser Verlag, 480 Seiten

Als Mädchen war Sophia heftig in Karim verliebt, dennoch heiratete sie einen reichen Goldschmied. Als Karim jedoch unschuldig unter Mordverdacht geriet, rettete sie ihm das Leben. Wann immer sie ihn brauche, verspricht er, wird er ihr helfen, auch unter Lebensgefahr. Viele Jahre später kehrt Sophias einziger Sohn Salman aus dem Exil in Italien nach Damaskus zurück. Plötzlich entdeckt er sein Fahndungsfoto in der Zeitung und muss untertauchen. Jetzt erinnert sich Sophia an das Versprechen Karims, der im Alter eine neue Liebe gefunden hat. In seinem neuen Roman erzählt Rafik Schami von der Macht der Liebe, die Mut und Tapferkeit gibt, die verjüngt und die Leben retten kann. (Text: Verlag)


Nihad Siris: Ali Hassans Intrige
Lenos Verlag, 173 Seiten, aus dem Arabischen von Regina Karachouli

Schon seit fünf Jahren ist Fathi Schîn, ein bekannter Schriftsteller, mit einem Schreib- und Publikationsverbot belegt. Er gilt als „Abweichler“, als „elender Verräter“, hatte er es doch abgelehnt, in seiner Fernsehsendung einen literarischen Wettbewerb über den Grossen Führer zu veranstalten, was ihn prompt seine Stelle kostete. Das Schreibverbot hätte ihn längst erstickt, gäbe es da nicht seine verwitwete Mutter, die ihn finanziell unterstützt, und vor allem seine Geliebte Lama, eine schöne, kluge und selbstbewusste Frau. Doch die Mächtigen wollen sich nicht mehr mit seinem Schweigen begnügen, sie fordern seine Mitarbeit. Ausgerechnet während der Feierlichkeiten zum zwanzigsten Jahrestag der Machtergreifung des Grossen Führers stellen sie ihm eine Falle. (Text: Verlag)


Dima Wannous: Dunkle Wolken über Damaskus. Erzählungen
Nautilus Verlag, 125 Seiten, aus dem Arabischen von Larissa Bender

Dima Wannous erzählt vom Leben der Menschen vor Beginn der syrischen Revolution 2011. Es sind zerstörte und gestörte Persönlichkeiten, die Wannous beschreibt; unfähig, angepasst, verängstigt, Kriecher, arme Schlucker, und alle Opfer einer alles beherrschenden Diktatur. Maha, soeben befördert, hat hart um die Position der Redaktionsdirektorin gekämpft: durch umsichtiges Hofieren, vorauseilenden Gehorsam und regierungstreue Meinung. Endlich ist es soweit – doch ihr wird klar, dass der Stuhl einer Direktorin nicht nur erobert, sondern auch verteidigt werden will. Sahar, eine junge, hübsche Frau mit einem kleinen, dicken, haarigen Ehemann, verbringt ihre Tage mit dem Observieren der Nachbarn durch ihr Fenster sowie mit Koranunterricht durch eine Witwe aus der Nachbarschaft, die erstaunliche Handreichungen zu Keuschheit und Prostitution in der Ehe gibt. Samîh ist Taxifahrer in Damaskus, der sein Auto liebt und in den langen Staus seine Fahrgäste mit den seltsamsten Fragen löchert. (Text: Verlag)

Rezension im Blog der Münchner Stadtbibliothek


Samar Yazbek: Die gestohlene Revolution
Nagel & Kimche, 286 Seiten, aus dem Arabischen von Larissa Bender

2012 erregte Samar Yazbeks Syrien-Bericht „Schrei nach Freiheit“ Aufsehen. Yazbek musste fliehen; seither kehrte sie mehrfach heimlich in ihre Heimat zurück und beobachtete, wie sehr sich die Revolution verändert hat: Vom friedlichen Bürgerprotest gegen die Diktatur zum bewaffneten Widerstand, dann zum Bürgerkrieg, immer stärker dominiert von islamistischen Gruppen, bis zum bloßen Albtraum, aus dem der IS den größten Nutzen zieht. Yazbeks Interesse gilt den einzelnen Menschen in diesem Wandel, deren Schicksale sie mit großer Eindringlichkeit beschreibt. Sie sind die Hoffnung Syriens – und das Ergebnis einer Gewaltspirale, die das Land täglich weiter zerstört. (Text: Verlag)


Gerhard Schweizer: Syrien verstehen
Klett-Cotta, 503 Seiten

Syrien – seit drei Jahrtausenden Schmelztiegel östlicher und westlicher Kulturen, einst Hochburg des Christentums, dann ein Kernland des Islam, Schauplatz der Kreuzzüge, deren verhängnisvolle Nachwirkungen bis heute zu spüren sind, Brennpunkt der Religionsspaltung in Sunniten und Schiiten, unseliger Hort der Muslimbrüder, Kampfgebiet der Rebellen, des Islamischen Staates. Syrien wurde im 20. Jahrhundert zu einer Keimzelle des arabischen Nationalismus wie des islamischen Fundamentalismus. Die westliche Berichterstattung reduzierte den Nahostkonflikt lange Zeit auf die Krisenherde Israel und Palästina. Syrien ist unter der Diktatur der Assads zur Geisel der Gewalt geworden, geht in einem Bürgerkrieg unter – und die Welt schaut zu. Das Syrien der Assads versuchte sich schon lang, den Libanon als „Provinz“ einzuverleiben. Dass der großsyrische Nationalismus zu lange unterschätzt wurde, führte zu der jetzigen Katastrophe, die den Nahen Osten, Europa und die Welt noch lange Zeit in Atem halten wird. (Text: Verlag)


Veranstaltungstipp: Kulturfrühstück – Blickpunkt Syrien. Mit Yamen Hussein und Fridolin Schley

Titelfoto: Faculty of Architecture, Damaskus, Syrien. Hani Dahman/Unsplash

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